Bildung, Familie, Religion. Warum Menschen (nicht) straffällig werden

15. November 2010


Eine neue Studie der Bertelsmann Stiftung geht kriminellem Verhalten auf den Grund und nennt drei Ursachen: geringe Bildung, kaputte Familie, fehlender Glaube.

Ich hatte vor etwa einem halben Jahr auf eine Meta-Studie zum Thema Religion und Konfession, Recht und Moral hingewiesen (Püttmann 2010). In drei Texten (Tolerantes Christentum, Wie sie handeln. Ein Beitrag zur deskriptiven Ethik, Effekte des Glaubens) stelle ich interessante Ergebnisse des Buches „Gesellschaft ohne Gott. Risiken und Nebenwirkungen der Entchristlichung Deutschlands“ vor.

Konfession: Signifikante Determinante von Kriminalität

Nun erschien eine neue Studie zu diesem Themenkreis. Horst Entorf und Philip Sieger haben im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung untersucht, welche Umstände eine Kriminellenkarriere begünstigen. Die wichtigste Einflussgröße ist Bildung. Entsprechend heißt die Studie „Unzureichende Bildung: Folgekosten durch Kriminalität“, will heißen: Was Vater Staat heute in den Schulen spart, zahlt er morgen doppelt und dreifach ins Justizsystem ein. Das ist keine Sensation. Es deckt sich mit dem, was wir über die soziale Situation von Straftätern wissen und mit dem, was Bildungsexperten seit jeher postulieren: Bildung ist Zukunft. Der zweitbedeutendste Faktor ist das familiäre Umfeld. Auch das war zu erwarten. Wer beispielsweise Eltern und/oder (ältere) Geschwister hat, die selber schon mit dem Arm des Gesetzes kreuzten, ist eher darauf „vorbereitet“, in die Kriminalität abzusinken. Ebenso wirken sich Scheidungen auf die kommende Generation negativ aus: Scheidungskinder werden öfter straffällig. Die dritte „signifikante Determinante von Kriminalität“ ist die Religion bzw. Konfession. Die Bertelsmann-Studie kommt zu dem Schluss, dass Konfessionslosigkeit die Wahrscheinlichkeit erhöht, kriminell zu werden.

Offenbar wurde mit diesem Befund die Erwartung der Forscher enttäuscht. Ich kenne die entsprechende Arbeitshypothese nicht, die vor der Aufnahme empirischer Daten im Notizbuch stand, doch vielleicht meinten die Wissenschaftler, annehmen zu müssen, dass sich die eher negative Sicht auf Religion im Kontext von Moralität, Sittlichkeit und Rechtschaffenheit doch nun endlich auch mal in der Wirklichkeit niederschlagen müsste. Jedenfalls zeigen sich die Forscher „etwas überrascht“ von dem, was sie fanden, konkret: „Etwas überraschend ist der über alle Spezifikationen hinweg festgestellte kriminogene Einfluss der Konfessionslosigkeit.“

Doch nicht ganz so schlimm: Christen

Es muss weh tun, schreiben zu müssen, „dass bei Mitgliedern der christlichen Kirchen eine messbar geringere Kriminalität feststellbar ist“, wo sich doch derzeit alles auf eine andere Sicht einschließt (Kreuzzüge und so). Es hat offensichtlich weh getan, deshalb hat man die Gegenprobe gemacht: „Diese Interpretation wird von einem durchgehend negativen, gleichfalls auf mindestens 10%-Niveau signifikanten Vorzeichen einer alternativen Modellierung mit ,katholisch oder evangelisch’ anstelle von ,konfessionslos’ gestützt. Der Koeffizient in der Schätzgleichung wäre -0.032, also sehr ähnlich wie bei ,konfessionslos’, nur mit umgekehrtem Vorzeichen.“ Mist! Aber dass der Faktor „Konfessionsbindung“ den Faktor „Konfessionslosigkeit“ spiegelt, darauf hätte man auch ohne Gegenprobe kommen können.

Sodann hat man geschaut, ob nicht andere Faktoren den Faktor „Konfession“ überlagern. Doch: „Alternative Erklärungen, wonach Konfessionslosigkeit mit Ost-West-Unterschieden verwechselt werden könnte (in Ostdeutschland ist Konfessionslosigkeit aufgrund der DDR-Vergangenheit weitaus häufiger anzutreffen), haben sich als nicht tragfähig erwiesen: Ergänzende Schätzungen mit Ost-Dummy-Variablen als zusätzliche erklärende Variablen zeigen für die Indikatorvariable keine Signifikanz, während ,Konfessionslosigkeit’ keine Signifikanz einbüßt.“ Heißt auf deutsch: Man kann sich und die Welt auf den Kopf stellen, man findet im Rahmen der empirischen Sozialforschung einfach keine anderen Faktoren, die die Unterschiede bei der Chance, straffällig zu werden, so gut erklären wie das Merkmal „Konfession/Konfessionslosigkeit“.

Noch einmal: Eine Ausnahme? Ein Messfehler? Das Resultat eines entsprechend prädisponierten Forschungsdesigns? Man ist ja heute geneigt, eher skeptisch zu reagieren, wenn Gutes über Religion berichtet wird. Außerdem gilt es allenthalben, dass mit viel Mühe in die Köpfe medialer Konsumenten gepresste Aufklärungsnarrativ von der durch skrupellose Indoktrination auf die Verbrennung von Hexen gedrillten Christenbrut unbedingt zu tradieren, ehe es wieder vergessen oder gar von der Wirklichkeit eingeholt wird. Sonst droht am Ende dem Euro-Laizismus ein argumentatives Vakuum.

Und jetzt kommt das eigentlich Interessante: „Das Resultat bestätigt ähnliche Erkenntnisse in der kriminologischen Literatur.“ Entorf / Sieger zeigen sich „etwas überrascht“, dass ihre Ergebnisse das bestätigen, was bisher immer gefunden wurde. Das überrascht jetzt wiederum mich. Nicht nur „etwas“. Weniger, dass es sie tatsächlich überrascht hat, vielmehr, dass sie es so freimütig zugeben.

Zusammenfassend vermuten Entorf / Sieger eine durch Konfessionalität gestärkte moralische Prägung, welche hinter dem konkreten Verhalten stehend dafür sorgt, dass konfessionsgebundene Menschen seltener und konfessionslose Menschen häufiger kriminell werden: „Es kann vermutet werden, dass die (Nicht-)Mitgliedschaft in einer Amtskirche ein Indikator für ein (fehlendes) moralisches Verhalten ist, dass durch die anderen Variablen des Schätzmodells nicht abgedeckt wird.“

Hauptsache: Man glaubt überhaupt?

Dann beziehen sich Entorf / Sieger auf die Studie von Baier, Pfeiffer et al. im Auftrag des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN, 2010). In dieser Studie wurde gezeigt, dass junge Christen mit Migrationshintergrund deutlich seltener zu Gewalt greifen als junge muslimische oder nicht-religiöse Migranten. Seien unter den „sehr religiösen“ Muslimen bereits etwa 24 Prozent durch Gewaltdelikte aufgefallen, unter den „etwas religiösen“ Muslimen 20 Prozent und unter den „nicht religiösen“ Migranten 22 Prozent, hinken die „sehr religiösen“ christlichen Migranten mit 12 Prozent weit hinterher. Entorf / Sieger schreiben, dass „auch die Studie des KFN eine höhere Kriminalität bei den kirchlich nicht gebundenen Jugendlichen“ bestätige, rügen jedoch die vom KFN vorgenommene Kontrastierung Christ vs. Muslime: „In der Präsentation ihrer Ergebnisse vernachlässigt die KFN-Studie diesen Aspekt ihrer Forschung leider etwas und geht stattdessen verstärkt auf die Unterschiede zwischen ,Muslimen’ und ,Christen’ ein. Auch in unserer Studie finden wir zwar wie das KFN ein positives Vorzeichen des Einflusses muslimischer Religion auf Kriminalität, der Effekt ist jedoch bei einem üblichen Signifikanzniveau von mindestens 5 % in keiner der betrachteten Spezifikationen statistisch von Null verschieden. Unsere Studie kann also, anders als das KFN, den klaren Befund eines Einflusses der Islamzugehörigkeit auf Kriminalität nicht bestätigen, jedoch findet sie einen signifikanten Einfluss der Konfessionslosigkeit.“ Kommt das KFN also zu dem Ergebnis, christlicher Glaube schütze davor, kriminell zu werden, muslimischer Glaube und kein Glaube hingegen erhöhe die Chance für Straffälligkeit, so kommen Entorf / Sieger zu dem Ergebnis, religiöser Glaube als solcher sei stabilisierend – egal welcher Konfession.

Ich möchte diesen Punkt nicht ausführen, ihn bloß mit einem kleinen Fragezeichen versehen. Ich wage diese Schlussfolgerung der Bertelsmann-Studie zu bezweifeln und messe diesbezüglich der KFN-Studie eher Glaubwürdigkeit zu, gerade weil sie den Unterschied zwischen „Muslimen“ und „Christen“ ausführlich untersucht hat. Doch wie dem auch sei: Einig ist man sich studienübergreifend, dass die christliche Religion, also der Glaube an den dreifaltigen Gott der Bibel, der sich in Kirchlichkeit ausdrückt, Menschen davon abhält, kriminell zu werden. Offenbar ist der Dekalog, gelesen mit den liebenden Augen Jesu und bewusst gelebt in der Nachfolge Christi, immer noch gut geeignet, als moralische Basis einer rechtlichen und faktischen Gesellschaftsorganisation zu fungieren.

Was kann der Staat tun?

Wer die Früchte des Glaubens ernten will, muss freilich zunächst säen. Auf den Glauben selbst hat der Staat wenig Einfluss, auf die Entfaltungsmöglichkeiten von Religion in der Öffentlichkeit jedoch schon. Ich bin mir dazu vor dem Hintergrund der empirischen Befunde nicht gar so sicher, dass es wirklich der Weisheit allerletzter Schluss ist, panikartig jeden Hinweis auf das Christentum in Europa zu beseitigen. Ich will nicht so weit gehen zu schreiben: Wer heute Kreuze abnimmt, muss morgen Gefängnisse bauen, doch liefern die Zahlen für den Staat keinen überragenden Grund zur Veranlassung, weiter in Richtung Laizismus voranzuschreiten. Denn: Wer Laizismus will, muss auch die Folgelast tragen wollen. Will man das? Man mag die Studien nehmen, wie man mag (Püttmanns Meta-Studie unterstreicht im Übrigen die Befunde von KFN und Bertelsmann) – zumindest aber sollten sie zu einem entspannteren Verhältnis von Staat und Kirche, von Gesellschaft und Religion in Europa ermutigen.

Auch auf die Familie ist der Zugriff des Staates – Gott sei Dank! – ein sehr bedingter. Das gilt im positiven wie im negativen Modus: Der Staat kann und soll nicht alles regeln. Die Faktoren, warum Ehen zerbrechen und Familien zerrüttet sind, dürfen zudem als sehr vielfältig und komplex gelten. Der Staat kann aber Ehe und Familie als solche in besonderer Weise stärken. Es ist darauf zu achten, dass die Förderung (auch, aber nicht nur die finanzielle) von Ehe und Familie auch künftig gewährleistet ist. Hier darf der Staat nicht sparen.

Bildung: Zurück zu den Wurzeln

Bleibt die Bildung. Auch hier darf der Staat nicht sparen. Doch Geld ist nicht alles. Denn hier schließt sich auch der Kreis zur Religion. Ich spiele damit weniger auf den Religionsunterricht an (den man wohl trotz allem ungerechtfertigter Weise unterschätzt, wenn man ihn ins AG-Progamm am Nachmittag abschiebt), ich meine vielmehr die Bildung als solche.

Oftmals gibt eine etymologische Analyse Aufschluss über die Bedeutung eines Begriffs. So auch bei „Bildung“. Das Wort stammt von Meister Eckhart. Er meint damit eine Rückführung des Menschen zu seinem Ursprung als Abbild Gottes. Bildung soll als ganzheitliche Persönlichkeitswerdung den Menschen befähigen, sich so zu entwickeln, dass er schließlich sein kann, wie ihn der Schöpfer ursprünglich gemeint hat. Bildung soll ermöglichen, dass sich der Mensch dem Bilde Gottes, dem nach er äußerlich geschaffen ist, innerlich nähert. Der Mensch soll wie sein gottgeschenktes Bild werden – „gebildet“. Die Wurzel von „Bildung“ liegt also in der Schöpfungstheologie, beim christliche Menschenbild.

Wenn wir bemängeln, die Jugend sei unzureichend gebildet, dann heißt das also: Sie ist nicht diesem Ideal des Menschen zugewandt, das sich im Menschen schlechthin, Jesus Christus, offenbart. Kurz: Sie ist nicht Gott zugewandt. Das steckt tief hinter: Sie ist nicht gebildet. Von Gott abgewandt sein, heißt ungebildet sein. Diese Hinwendung zu Gott findet in erster Linie in der Familie statt.

Die empirischen Befunde zur Frage, was Menschen kriminell sein lässt, sollte Mut machen, in unseren Familien eine religiös fundierte Persönlichkeitsbildung im Sinne Meister Eckharts zu fördern, damit sich junge Menschen angenommen und zugleich verantwortlich fühlen. Dahin müssen wir aber auch mit unseren staatlichen Bildungskonzepten vordringen.

Nirgendwo ist dieses Wechselverhältnis von Angenommensein und Verantwortlich handeln, von Geborgenheit und Moralität so gut grundgelegt wie im christlichen Menschenbild, da hier die unbedingte Liebe Gottes Ursache und Motiv menschlichen Verhaltens ist.

Zusammenschau von Bildung, Familie und Religion

Dieser enge Zusammenhang von Bildung, Familie und Religion mag unzeitgemäß sein, doch weisen die besprochenen Studien in eben diese Richtung. Sie zeigen, dass es nicht völlig willkürlich ist, Bildung, Familie und Religion gedanklich zusammenzuführen. Mehr noch: Bildung, Familie und Religion gleichermaßen politisch und gesellschaftlich zu fördern, hieße, die Menschen moralisch besser und die Gesellschaft sicherer zu machen. Und da das Justizvollzugssystem viel Geld kostet, hieße es ferner, den Staat finanziell zu entlasten.

Zumindest sollte man einmal über diese rein funktionalistischen Erwägungen nachdenken, die durch die Wirklichkeit, wie sie in den Studien sowohl von KFN als auch von Bertelsmann zu Tage gefördert und in der Meta-Studie Püttmanns facettenreich illustriert wird, überdeutlich impliziert werden. In aller Ruhe nachdenken, jenseits weltanschaulicher Präferenzen. Nur ganz kurz, aber ehrlich. Man kann ja dann immer noch öffentlich die sich selbst zugewiesene Gutmensch-Rolle des Säkularisten spielen und sagen, wie „mittelalterlich“ das alles ist. Man sollte sich auch von dem Umstand nicht abhalten lassen, dass die Studien wissenschaftlichen Standards gehorchen, einen zutiefst humanistischen Anspruch haben und von 2010 sind.

(Josef Bordat)

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