Spätabtreibung. Einige moralische Anfragen

27. Juni 2013


In Texas sollten Abtreibungen nach der 20. Schwangerschaftswoche verboten werden. Dass und warum dies nicht gelang, wird derzeit in der TAZ bejubelt. Das ist eigentlich nicht die Nachricht, die mich interessiert, obgleich es Bände spricht. Mich interessiert vielmehr, wie sich mit immer weicheren Konditionen im Lebensschutz die Befürworter einer weitestgehenden Liberalisierung selbst widerlegen. Denn: Die Tatsache, dass ein fünf Monate alter Embryo weit genug entwickelt ist, um Schmerzen zu empfinden, zeigt zum einen, dass es bei der 12-Wochen-Frist gar nicht um „Empfindungsfähigkeit“ und „Schmerzfreiheit“ geht, sondern um pragmatische Fragen der Durchführbarkeit von Abtreibungen. Ahnen konnte man das schon vorher, denn die Frage, ab wann Hirnströme auftreten, so dass man von „Bewusstsein“ – im biologistischen Sinne! – sprechen kann, ist nicht eindeutig beantwortet und auch nicht eindeutig zu beantworten. Je nachdem, welche Ansprüche man an „Hirnströme“ stellt (Reicht ihre nachweisliche Existenz, also: „Strom fließt“ oder braucht es die Ausbildung eines gleichförmigen Wellenprofils auf dem Bildschirm?), liegt der erste Zeitpunkt ihres Auftretens mit handelsüblichen Messverfahren zwischen der 6. und der 24. Schwangerschaftswoche. Irgendwo mittendrin liegt dann die 12-Wochen-Frist nach § 218 StGB.

Zum anderen zeigt es, wie nahe man sich mittlerweile an die Überlebensfähigkeitsgrenze extrauteriner Föten herantastet, ohne rot zu werden: 20. Woche – das ist gerade mal 2 Wochen vor dem Zeitpunkt, ab dem ein Mensch auch außerhalb des Mutterleibes überlebensfähig ist. Eingedenk weiteren technischen Fortschritts dürften bald auch frühgeborene Kinder vor der 20. Woche überlebensfähig sein. Dann haben wir einen grotesken Tatbestand: In Texas dürften dann Kinder im Mutterleib straffrei getötet werden, deren Tötung außerhalb des Mutterleibs eine Straftat wäre.

Neu ist auch dieses Problem nicht – bei behinderten Kindern macht man hierzulande schon seit längerem eine Ausnahme von der 12-Wochen-Frist und Spätabtreibungen (in Deutschland medizinisch – nicht juristisch – definiert als Tötung von Embryos, die älter sind als 22 Wochen) finden täglich statt. Einigen reicht das offenbar noch nicht. In einem Spiegel-Artikel aus dem Jahre 2009 wird in erschreckender Diktion ein automatisierter, von der gewissenhaften Selbstbestimmung des Arztes entkoppelter Fetozid gefordert. Die Tötung wird dabei zum „Eingriff“, auf den es ein „Recht“ gibt. Ärzte, die sich aus Gewissensgründen weigern, einen solchen „Eingriff“ vorzunehmen, „drücken sich vor der Verantwortung“, die sie offenbar ausschließlich der Frau und ihrer „Lebensperspektive mit dem behinderten Kind“ gegenüber haben sollen – nicht aber dem behinderten Kind gegenüber, nicht sich selbst gegenüber und am allerwenigsten gegenüber Gott.

Das Thema wird in einer Weise behandelt, die es völlig auf den Kopf stellt: 1. Nicht die Tötung ist das moralische Problem, sondern deren Verweigerung. Es geht nicht darum, einen lebensfähigen Menschen in seiner Lebensführung zu unterstützen, sondern darum, festzulegen, ob dieser lebensfähige Mensch auch lebenswert ist oder ob vielleicht die Gefahr besteht, er könne gegebenenfalls die „Lebensperspektive“ anderer Menschen beeinträchtigen (was im übrigen für Kinder im Allgemeinen gilt, aber auch für Eltern, die altern – hier schließt sich dann der Kreis und Abtreibung trifft Sterbehilfe). 2. Der Gewissensvorbehalt – sonst als Ausdruck von Autonomie hoch geschätzt – wird im Falle des Arztes zum Akt der „Willkür“. Es erscheint geradewegs als eine Frechheit, dass der Arzt, eigentlich – wir erinnern uns – zum Helfen und Heilen ausgebildet, Skrupel zeigt, sobald es ums Töten geht. Man braucht nun gar nicht – wie im erwähnten Spiegel-Artikel geschehen – dem Arzt religiöse Motive zu unterstellen (die eine säkularistische Gesellschaft nicht akzeptieren dürfen soll) oder christliche und jüdische Anthropologie gegeneinander auszuspielen, um zu zeigen, dass es auch bei „Religion“ bisweilen anders geht. Nein, das alles sollte keine Rolle spielen, denn das Gewissen selbst trägt ja das Gewicht der Entscheidung gegen die Tötung.

Im übrigen hilft ein kurzer Blick in die Geschichte, der zeigt, wohin die Nichtberücksichtigung des Eigenwerts von menschlichem Leben führen kann: zur Auffassung, es gäbe einen Zustand menschlichen Daseins, der für sich genommen dazu berechtigt, dieses menschliche Dasein zu beenden. Ergebnis dieser Geschichte ist ja gerade die gegenteilige Auffassung unseres Grundgesetzes, nämlich die, dass ein Menschenleben – behindert oder nicht, vor oder nach der Geburt, jung oder alt, arm oder reich – zu schützen ist; verbrieft im Konzept der Menschenwürde, ein Konzept, das gerade keine Abwägungsmöglichkeit vorsieht, sondern absolut gilt, das heißt losgelöst von der Frage, ob der würdebegabte Mensch für Dritte eher „Lust“ oder „Last“ bedeutet.

Recht hat die in dem Spiegel-Artikel zu Wort kommende Psychotherapeutin jedoch mit einer Bemerkung zum Kommunikationsstil des sich weigernden Arztes: Dieser sollte offen zu seiner Gewissensentscheidung stehen, indem er sie der Frau gegenüber als eine solche expliziert: „Die Fairness würde es gebieten, zu sagen: ,Es tut mir leid, ich dürfte Ihnen zwar helfen, aber ich möchte nicht.’“ Das heißt eigentlich (zumindest, wenn man das Gewissen ernst nimmt): „Ich kann nicht, obwohl ich dürfte.“ Und das dann den Eltern des Kindes zu erklären, nicht zur Rechtfertigung einer religiösen Schrulle, sondern um die Ernsthaftigkeit eines Fetozids für den Arzt zu betonen. Dieser, der Fetozid, muss ja stattfinden – ohne vom Arzt aktiv vorgenommene Tötung ist das spätabgetriebene Baby, sobald es den Mutterleib verlassen hat und eben (noch) nicht tot ist, juristisch betrachtet eine Frühgeburt und muss nach den Regeln der medizinischen Kunst versorgt werden! Andernfalls könnte der Arzt, wenn er dann noch „eingreift“, nach § 212 StGB wegen Totschlags belangt werden – oder es tritt dann womöglich der Fall ein, dass das spätabgetriebene (und eben nicht früh genug getötete) Baby irgendwann 16 Jahre alt wird und auf eine – dem Augenschein nach – glückliche Kindheit zurückblickt.

Es zeigt sich immer mehr, dass das Dammbruchargument im Lebensschutz durchaus Gewicht hat (vielleicht sogar mehr, als selbst die, die es benennen, anzunehmen wagen), dass pathozentrische Argumente eher egozentrische Argumente sind (es geht nicht darum, dem Embryo qua Tötung künftiges Leid und qua Frist aktualen Schmerz zu ersparen, sondern um die eigene „Lebensperpektive“), dass die Strafbarkeit der Tötung eines Kindes eine Frage seines Aufenthaltsorts und seines Gesundheitszustands ist (zusammen mit „Dammbruch“ und „Egozentrik“ braucht es nicht viel Phantasie, um völlig neue Möglichkeiten zu erahnen, in juristisch sauberer Manier sehr junge oder sehr alte Familienangehörige los zu werden) und – last but not least – dass der Begriff „Gewissen“ in der ethischen Debatte nur verfängt, wenn es gerade passt. Das alles ist höchst erstaunlich, wo wir uns doch auf der moralischen Überholspur Richtung bessre Welt wähnen. Noch erstaunlicher ist nur, dass gegen diese Sach- und Schieflage kaum jemand aufbegehrt.

(Josef Bordat)

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