Wo ist Gott im Leid?

14. Juni 2010


Auf die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes (Theodizee) lassen sich – jenseits einer soteriologischen Ausdeutung des Leids als Teilhabe am Erlösungswerk Jesu (eine Lösung, die gläubigen Christen vorbehalten ist und die man nur für sich, niemals für Andere vertreten kann – ich komme darauf zurück) – drei höchst unterschiedliche Antworten geben: 1. Man nimmt an, Gott habe sich von den Menschen zurückgezogen, weil sie ihn ablehnen, 2. Man vertraut auf Gott angesichts seiner Unergründlichkeit, 3. Man kritisiert die Allmachtsannahme und nimmt den Menschen in die Verantwortung (Anthropodizee).

Rückzug Gottes?

1. Die Annahme, Gott habe sich von den Menschen zurückgezogen, weil sie ihn ablehnen, begegnet uns etwa bei Dietrich Bonhoefer. So schreibt er in einem Brief vom 16. Juli 1944: “Vor und mit Gott leben wir ohne Gott. Gott läßt sich aus der Welt herausdrängen ans Kreuz, Gott ist ohnmächtig und schwach in der Welt” (Bonhoefer 1995, S. 394).

Viele neureligiöse Erweckungsbewegungen aus dem breiten Spektrum evangelikaler und charismatischer Gruppen sehen im Leid eine Strafe für das Gebaren der säkularisierten westlichen Welt, die sich von den Geboten Gottes abgewendet hat und in Dekadenz und Sündhaftigkeit lebt. Derartige Erklärungen des Bösen werden durchaus auch von prominenter Seite aufgegriffen und popularisiert, etwa vom Fernsehprediger Pat Robertson. Hier ergibt sich eine gefährliche Mentalität, die das Böse zur Bestätigung der eigenen Position instrumentalisiert und teilweise als Kontrastmittel ästhetisiert. Der Übergang von der passiven Feststellung, der hämischen Kommentierung und der aktiven Hervorrufung von Übeln – als eine Art selbsterfüllte Prophezeiung – ist dabei im übrigen fließend.

Die Wege des Herrn

2. Das Postulat des bedingungslosen Vertrauens auf die Fügungen Gottes angesichts seiner Unergründlichkeit zerfällt in zwei Teile. Erstens in die Erkenntnis und Akzeptanz der tiefen Unergründlichkeit Gottes, die schon der Apostel Paulus eindrücklich beschrieb: “O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege!” (Römer 11,33). In diesem Sinne gibt es keine Lösung des Theodizee-Problems. Wir sind nicht berechtigt, Gott anzuklagen. Daraus folgt dann, wenn man weiter an Gott glauben will, zum zweiten das bedingungslose Vertrauen auf Gott. Hans Küng führt dazu in Christ sein aus, dass unbedingtes und restloses Vertrauen zu Gott, trotz der Unfähigkeit, das Rätsel des Leids und des Bösen lösen zu können, dem leidenden, zweifelnden, verzweifelten Menschen einen letzten Halt gebe und sich das Leid damit zwar nicht ursächlich “erklären”, aber doch bestehen lasse (Küng 1974, S. 357), mehr noch: “Durch Leiden soll der Mensch zum Leben gelangen. Warum das so ist, warum das für den Menschen gut und sinnvoll ist, warum es nicht ohne Leid besser ginge, das kann keine Vernunft erweisen. Das kann aber vom Leiden, Sterben und neuen Leben Jesu im Vertrauen auf Gott schon in der Gegenwart als sinnvoll angenommen werden, in der Gewissheit der Hoffnung auf ein Offenbarwerden des Sinnes in der Vollendung” (Küng 1974, S. 528).

Der hier zu erkennende Fatalismus ist selbstredend eine mögliche Lösung, aber es fällt trotz allem schwer, diese als eine zu verstehen, welche die Theodizee-Frage zum Verstummen bringt. Denn es ist eher so, dass schlicht gefordert wird, sie nicht zu stellen. Sie wird heute wieder zur Ketzerfrage erklärt, mehr noch: Sie sei, so Hermann Lübbe, “religiös überflüssig” und “religionsgeschichtlich belanglos” und sogar gefährlich, da sie sich, wie Lübbe im Anschluss an Marquard betont, potentiell in Totalitarismus verkehre (Lübbe 1986, S. 195ff.). Küngs Vertrauen scheint kaum besser zu sein, doch gibt es hier zumindest eine Perspektive für das leidende Individuum. Die Frage nach dem Ursprung des Bösen wird zwar auch umgangen, aber zumindest wird dem leidenden Menschen ein Ausweg im Glauben aufgezeigt.

Die Ohnmacht Gottes…

3. Im Anschluss daran betreibt die Kritik am Allmachtspostulat ebenfalls den Perspektivwechsel von der Ursachenforschung zur Überwindung des Übels und nimmt den Menschen in die Verantwortung. Was einerseits als “Umgehungsversuch” kritisiert wird, um weiterhin “ohne Gewissensbisse die Existenz eines gütigen Gottes” behaupten zu können (Streminger 1992, S. 179), erscheint andererseits als die eigentliche Essenz theologischen Nachdenkens über das Böse: “nicht Erklärung des Bösen, sondern seine Überwindung” (Geyer 1992, S. 32). Der jüdische Philosoph Hans Jonas, der den Vernichtungslagern des Dritten Reiches nur knapp entrann, beschreibt in Der Gottesbegriff nach Auschwitz Gott als den, welcher um der Verstehbarkeit Willen seine Allmacht radikal einschränkt. Versucht also die “klassische” Antwort auf die Theodizee-Frage, etwa bei Leibniz, Gottes Allmacht und Gottes Güte auf eine vernünftige Weise zu vermitteln und damit die Transparenz Gottes zu erreichen (Bordat 2007, S. 18ff.; Geyer 1992, S. 30), so kann dies nach Jonas’ Vorstellung nicht gelingen. Allmacht ist für Jonas ein in sich selbst widersprüchlicher Begriff, der zur Selbstaufhebung führt, und in Umkehrung zum Leibnizschen Ansatz konstatiert er, dass dort, wo Allmacht und Güte zusammen bestehen, der Preis dafür die Unerforschlichkeit Gottes sei (Jonas 1984, S. 77f.). Und ein allmächtiger, gütiger Gott, der nicht zu verstehen ist, bereitet Jonas offenbar mehr Schwierigkeiten, als ein Gott, der zwar nicht mehr allmächtig ist, aber gütig und insbesondere verstehbar bleibt.

…und die Anthropodizee als nach-metaphysische Lösung

Die Aufgabe der Allmacht geschieht dabei im Zuge der Schöpfung. Damit wir zu existieren beginnen können, hört Gott partiell zu existieren auf. Der Schöpfer-Gott bindet sich selbst in seine Schöpfung ein und unterwirft sich gleichermaßen dem Leiden seiner Geschöpfe. Gott begibt sich damit in eine Schicksalsgemeinschaft mit dem Menschen. Aus Allmacht wird Ohnmacht. Zu hoffen bleibt ihm nur, so Jonas, dass der Mensch diese selbstindizierte Interdependenz von Schöpfer und Geschöpf in Verantwortung annimmt und sich mit Gott und für Gott darum bemüht, das Böse aus der Schöpfung – so weit es ihm möglich ist – zu entfernen, denn “aus dem Herzen der Menschen allein steigt es auf und gewinnt es Macht in der Welt” (Jonas 1984, S. 82f.). Nirgendwo wird die Ohnmacht Gottes, der sich den Bedingungen seiner Schöpfung unterwirft, deutlicher als im Kreuzestod Jesu, wie schon bei Bonhoeffer und Küng angeklungen ist.

Ich möchte abschließend Jonas’ Ansatz einmal weiterdenken und zeigen, dass er schließlich in die soteriologische Deutung einmündet.

Mit der Schöpfung geschieht ein erster Wandel Gottes, die Aufgabe der Allmacht und die Annahme der Ohnmacht. Mit seiner Menschwerdung in Jesus vollzieht Gott einen zweiten Wandel. Gott wird verstehbar. Jesus ist der “verstehbare Gott”. Aus der Ohnmacht folgt zwar auch eine Antwort auf die Theodizee-Frage, die wir verstehen können, doch ein Verständnis für den Heilsplan Gottes wird erst in Christi Wirken und in seinem Kreuzestod möglich.

Der verstehbare Gott

Was bedeutet in diesem Zusammenhang Jonas’ Paradigma der “Verstehbarkeit“?

Zweierlei: Zum einen die Kongruenz der ethischen Konzepte von Gut und Böse zwischen dem um Verständnis bemühten Menschen und dem zu verstehenden Gott und zum anderen die gleiche Beurteilungskompetenz hinsichtlich der ethischen Dimension eines Einzelereignisses von dem um Verständnis bemühten Menschen und dem zu verstehenden Gott. Es gilt also nicht mehr Leibnizens Erklärung für das Heil der Welt in unendlicher Perspektive, eine Draufsicht auf den Weltenlauf, die nur Gott hat und wir Menschen, die im Hier und Jetzt leiden, eben nicht. Garantieinstanzen dieser kongruenten Weltsicht sind die für alle Erkenntnis und Deutung bindenden Kriterien Raum und Zeit. Gott unterwirft sich diesem Rahmen. Dies geschieht in schwacher Form in der Schöpfung, in der Erschaffung des Menschen als sein “Abbild” (Genesis 1, 26–27) und in starker Form in seiner Menschwerdung in Jesus Christus.

Doch damit nicht genug: Er, der für unser Heil das Leid der Welt auf sich nimmt, wird auch zur “personifizierten Theodizee”. Im gekreuzigten Jesus kommen Leid und Heil zusammen, denn in der Kreuzigung begegnen uns zugleich gegenwärtig erfahrenes Leid und die Erwartung künftigen Heils. In Christus bekommt die Theodizee-Frage eine soteriologische Antwort, und nur darin kann das volle Verständnis göttlicher Güte und Gerechtigkeit liegen.

Der Christ vor dem Kreuz

Auch das Martyrium Christi bleibt freilich eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Bösen schuldig. Es zeigt aber die Möglichkeit der Überwindung des als unvermeidlich angesehenen Bösen, das nach Jonas als Herausforderung für eine in Verantwortung tätige Menschheit verstanden werden muss. Gleichzeitig erfährt auch der Gekreuzigte die Gottferne des modernen Menschen: “Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?” (Matthäus 27, 46). Genau das fragen wir auch, und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt angelangt, bei den zweifelnd, verzweifelten Fragen des modernen Christen angesichts des malum morale von Krieg und Terror und des malum physicum verheerender Naturkatastrophen. Der Gekreuzigte und der Nachfolger, der ernsthaft sein Kreuz auf sich nimmt, kommen sich im Kreuz einander näher. Im Idealfall gelangen sie zur mystischen Vereinigung. Das Leiden ist dabei die äußere Form, die die innere Einheit ermöglicht. Gott bewahrt nicht vor dem Leid, sondern im Leid, um sich dem Menschen noch deutlicher offenbaren zu können.

Eine solche Tiefe kann man nicht erklären, sondern nur erfahren. Es fällt demnach sehr schwer, sie theoretisch nachzuvollziehen. Es klingt zynisch, das Leid so aufzuwerten. Doch es soll keinen Wert an sich bekommen (etwa derart, dass man meinte, sich Leiden beifügen zu sollen, um Gott nahe zu sein), sondern erhält aus der Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen eine Bedeutung im Hinblick auf die Gottesfrage. Es hat damit einen Sinn.

Christen vermögen zudem angesichts des Kreuzes zu erahnen, dass Gott sie auch dann nicht verlässt, wenn sie unter Kriegen und Katastrophen leiden, weil sie in Jesus einen Bundesgenossen haben, der all das, was sie leiden, schon gelitten, was sie fühlen, schon gefühlt und was sie erhoffen, schon erhalten hat. Anders gesagt: Christus trug das Kreuz im Schmerz, damit das Kreuz uns im Schmerz trägt.

Zitierte Literatur

Bonhoeffer, Dietrich (1985): Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. v. Eberhard Bethge, München: Christian Kaiser.

Bordat, Josef (2007): Das Böse und die Gerechtigkeit Gottes, in: Bilder und Begriffe des Bösen, hg. v. Gisela Engel und Malte Chr. Gruber, Berlin: Trafo, S. 13-27.

Geyer, Carl-Friedrich (1992): Die Theodizee. Diskurs, Dokumentation, Transformation. Stuttgart: Franz Steiner.

Jonas, Hans (1984): Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Küng, Hans (1974): Christ sein. München: Piper.

Lübbe, Hermann (1986): Religion nach der Aufklärung. Graz: Styria.

Streminger, Gerhard (1992): Gottes Güte und die Übel der Welt. Das Theodizeeproblem. Tübingen: J. C. B. Mohr.

(Josef Bordat)

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