Handeln verantworten

26. Juni 2014


Wer handelt, macht sich schuldig. Wir sind eingebunden, ja, fest verwoben in ein System von Schuld. Kafka konnte das so wunderbar schildern. Erfahren müssen wir es alle tagtäglich. Diese Erfahrung impliziert die Frage nach der Moralität in einer neuen Weise. Die klassische Ethik der Individualtugenden stößt an ihre Grenzen, die moderne Sicht auf die Normen der Institution bleibt hingegen zu abstrakt. Wofür können wir und wofür müssen wir Verantwortung übernehmen? Verantwortung darf einerseits nicht überdehnt werden (die Komplexität der Moderne verführt dazu), andererseits darf sie sich auch nicht allein auf die unmittelbar und persönlich erfahrbaren Konsequenzen des Handelns beschränken (eine Tugendmoral verleiht in diesem Sinne sehr schnell das Gefühl von Selbstgerechtigkeit). Gesucht ist der Blick über den Tellerrand, der aber nicht ins Unendliche abschweift, sondern den Teller selbst nach wie vor im Auge behält.

Kürzlich hatte ich die Gelegenheit, die Benediktinerin Teresa Forcades, Theologin und Ärztin, zur Frage der Person und ihrer Position zur Gemeinschaft zu hören, ein Thema, das sehr nah an der Grundthese meines Gewissensbuchs liegt, nämlich der Notwendigkeit einer überpositiven Vermittlung von normativer Objektivität und dem handelnden Subjekt. Bekannt geworden (vor allem in Spanien) ist Teresa Forcades als Aktivistin gegen die Pharmaindustrie und als Verfechterin der Unabhängigkeit Kataloniens. Sie ist aber in erster Linie eine theologische Expertin für das christliche Konzept von Person und die Trinitätslehre, die damit in Verbindung steht. Bei mehreren Besuchen in ihrem Kloster Sant Benet de Montserrat bei Barcelona hatten meine Frau und ich sie kennengelernt. Nun begegneten wir uns wieder – in der Katholischen Studierendengemeinde Edith Stein; Teresa Forcades ist derzeit Gastdozentin an der Berliner Humboldt-Universität.

Anhand des lacanschen Subjektbegriffs, der das Verhältnis des Menschen zur Norm klärt und dabei drei Typen bestimmt (1. den Menschen, der Gesetzen gehorsam folgt, komme was da wolle, 2. den Menschen, der sich in einem scheinbaren Akt der Befreiung selbst zur Norm erklärt und 3. den Menschen, der die Regeln respektiert, aber begründete Ausnahmen zulässt) erläutert Schwester Teresa die Bedeutung der Verantwortung. Ihre These lautet im Anschluss an Lacan: Weder der heteronom bestimmte Law&Order-Mensch, noch das (pseudo)autonome Rebellentum macht Menschen wirklich zu moralischen Subjekten, sondern nur der im Gewissen verantwortete Normgebrauch (was den Bruch von Normen einschließt). Aber die Frage, die sich anschließt und an dem Abend auch in der Diskussion nicht beantwortet wurde, ist folgende: Was kann ein Mensch überhaupt verantworten?

Eine Antwort könnte im negativen Modus lauten: Der Mensch kann nichts verantworten, dass er prinzipiell nicht zu regulieren in der Lage ist. Die Grenze wäre hier etwa bei Fragen von Leben und Tod die unumkehrbare Entscheidung für den Tod. Ich soll nicht töten – aber eine Abtreibung kann ich verantworten, wäre demnach zwar denkmöglich, aber semantisch unsinnig, weil die Grammatik der Verantwortung die Antwortwortmöglichkeit einschließt. Der Tod, wenn er einmal eingetreten ist, lässt sich aber nicht mehr rückgängig machen. Auf das Todesereignis kann man nicht mehr so reagieren, derart antworten, dass der Umstand des Todes selbst zum Gegenstand gemacht würde, sondern nur noch das Töten (in Form der Strafe) oder das Todeserleben Dritter (in Gestalt des Trostes).

Im positiven Modus könnte eine Antwort lauten: Wir können nur das wirklich verantworten, was nach reiflicher Überlegung zum Zeitpunkt der Entscheidung wirklich zu einem ruhigen Gewissen führt. Nicht Selbstbetäubung, sondern Kongruenz von Sein und Selbstbild sollte hier handlungsleitend sein. Das schließt ein, dass man keine Entscheidung trifft, von der man a priori sicher weiß, dass man sie nicht verantworten kann, mit der man sich, wenn man sie trotzdem trifft, in ein Sein versetzt,an dem das Selbstbild zerbrechen muss. Das ist sicher für eine Entscheidung über den Tod eines oder mehrerer Menschen der Fall. Danach wird das Gewissen nicht mehr zur Ruhe kommen, man kann es höchstens noch betäuben.

Robert Spaemann markiert die Grenzen der Verantwortungsübernahme des Einzelnen in Fragen von Leben und Tod an einem besonders drastischen Fall. Er erzählt von einem Polizisten in Nazi-Deutschland, dem man sagte, er solle ein 12jähriges Judenmädchen erschießen; falls er sich weigern sollte, werde man 12 andere Unschuldige töten. „Jener Polizist, dem befohlen wurde, ein 12jähriges Judenmädchen zu erschießen, das ihn um sein Leben anflehte, hat wirklich geschossen. Sein sadistischer Vorgesetzter hatte ihm eine Alternative vor Augen gestellt: die Erschießung von 12 anderen unschuldigen und wehrlosen Personen. Der Polizist schoß und wurde wahnsinnig. Er tat, was er nicht mußte, weil er es nicht hätte können müssen. Jeder Mensch muß einmal sterben. Den Tod jener 12 Menschen hätte der Polizist sowenig zu verantworten gehabt, als wenn er keine Hände gehabt hätte. Hätte er nicht auch im Besitz von Händen sagen können: ,Ich kann nicht’?“

Im Hintergrund steht hier das als absolut verstandene Tötungsverbot, dessen Implikation im Kontext der Verantwortung Spaemann deutlich markiert: „Wer daran festhält, daß es Dinge gibt, die man nicht tun darf, der muß natürlich zugestehen, daß niemand für die Folgen der Unterlassung solcher Dinge die Verantwortung zu tragen hat.“ Doch es bleibt auch bei dieser „sauberen“ Lösung ein bitterer Beigeschmack. „Hätte ich nicht doch schießen sollen? So habe ich zwar nicht getötet, doch 12 Unschuldige sterben lassen, obwohl ich es hätte verhindern können!“ Auch an solchen Überlegungen kann man wahnsinnig werden. Doch, wenn wir töten müssten, um Leben zu retten, kann uns keiner dazu zwingen, selbst, wenn wir damit einen durchgeknallten Despoten daran hinderten, auf den „roten Knopf“ zu drücken und Unschuldige in den Tod zu stürzen.

Dennoch ringen wir mit uns und unserer Verantwortung, denn wir wissen: Egal wie wir uns entscheiden, wir werden Gründe finde, unsere Entscheidung zu bereuen. Es gibt Fallkonstellationen, die einem schier den Verstand rauben. Diese können wir, die Erfahrung habe ich gemacht, nur aushalten, weil wir glauben, dass wir – unabhängig von der konkreten Entscheidung – in Gott tief geborgen und von Gott unendlich geliebt sind. Dass wir nicht die Herren der Geschichte sind, sondern in ihr eingewoben, mit einer konkreten, nicht aber totalen Verantwortung. Umgekehrt brächten wir, wenn wir meinten, für alles die Verantwortung zu tragen, auch für Leben und Tod, Moral und Heil durcheinander. Robert Spaemann, einer der profiliertesten Kritiker eines solchen universalistischen Konsequentialismus, vermutet folgerichtig in der zur Geschichtsphilosophie aufgeblähten Verantwortungsethik einen Akt der „Selbstvergötterung des Menschen“. Wer die Geschichte nicht geborgen weiß in Gott, muss die Letztverantwortung für ihren Lauf dem Menschen übertragen und landet zwangsläufig bei der „greatest happiness of the greatest number“ als Zielgröße des Handelns.

Christliche Verantwortung, christlich verantwortetes Handeln nimmt Maß an Gott und dem Menschen, dem konkreten Nächsten, nicht einer abstrakten Größe namens „Menschheit“. Der Übergang vom einzelnen empirischen Menschen zur transzendentalen Menschheit, der schon mit Kant vollzogen wird, ist ja nichts anderes als der metaphysische Ersatz für die verlorene Verantwortungsbeziehung des transzendenzorientierten Menschen vor Gott. Die Wurzeln des christlichen Verantwortungsbegriffs liegen in der Gottesbeziehung. Aus der Verantwortung vor Gott erwächst die wohlverstandene Verantwortung für den Menschen – für sich und für andere. Der Verantwortungsbegriff christlicher Ethik kann auf Hektik und Aktionismus verzichten, ohne gleich in Fatalismus zu fallen. Verantwortung bedeutet für den Christen, zu tun, was jedem einzelnen Menschen möglich ist, aber auch zu unterlassen, was nur Gott möglich ist.

(Josef Bordat)

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