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Papst Pius XII., die Nazis und die Seligsprechung

3000 Seiten hat Pater Peter Gumpel für die Seligsprechung jenes Papstes zusammengetragen, dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg umstritten ist. Pius XII. wird vorgeworfen, Antisemit gewesen zu sein und die Deportation römischer Juden in Kauf genommen zu haben. Neue Dokumente zeichnen ein anderes Bild.

In einer kleinen Seitenstraße der mächtigen Via della Conciliazione, die zum Petersdom führt, liegt das Büro von Professor Doktor Pater Peter Gumpel. Das Büro im zweiten Stock ist mit seinen Eisenschränken und Neonröhren schlicht eingerichtet, dafür, dass der 84-Jährige als Untersuchungsrichter in der vatikanischen Heiligsprechungs-Kongregation gleichsam an der Schnittstelle zwischen Himmel und Erde arbeitet. 2000 Verfahren zur Seligsprechung sind über seinen Tisch gegangen; die meiste Zeit aber beschäftigte er sich dabei mit dem umstrittensten Papst der Kirchengeschichte, mit Pius XII., der vor 50 Jahren, am 9. Oktober 1958, in Castel Gandolfo bei Rom gestorben ist.

Wer Pater Gumpel besucht, den fragt er, egal zu welcher Uhrzeit, zunächst: „Rauchen Sie?“ und schiebt dann aufmunternd eine Packung „Rothman's“-Zigaretten über den Schreibtisch. Dann schleppt er fünf schwere, rot gebundene Bücher heran, auf deren Rücken schlicht steht: „Pius XII.“ Es sind die Akten seines Untersuchungsberichtes über Pius XII., 3000 Seiten, „ganz nach wissenschaftlichen Kriterien erstellt“, sagt Pater Gumpel. Er hörte Zeugen, wälzte Akten, legte seine Erkenntnisse Fachhistorikern, Theologen, Bischöfen und Kardinälen vor. Pater Gumpel ist stolz darauf, dass seine Berichte so wenig spekulativ und übersinnlich sind wie die Dienstkleidungsverordnung einer deutschen Behörde. Doch Pius XII. ist immer noch ein ganz normaler verstorbener Papst, weder selig, noch heilig. Papst Benedikt XVI., dort drüben im Apostolischen Palast, hat die Akte Pius XII. nicht unterschrieben. Pater Gumpel wartet immer noch auf die Erfüllung seines Lebenswerkes. Pater Gumpel steht morgens um fünf Uhr auf, liest die Messe, trinkt zwei Tassen Kaffee und beginnt mit der Arbeit. Seit 1984 untersucht er Leben und Charakter von Pius XII., besondere Tugendhaftigkeit ist Vorraussetzung für eine Seligsprechung. „Johannes Paul II. hat es persönlich befohlen“, sagt Pater Gumpel. Keine leichte Aufgabe. „Pio Dodicesimo“, wie er auf Italienisch heißt, Papst von 1939 bis 1958, scheint sich 50 Jahre nach seinem Tod, zumindest in den Augen der Öffentlichkeit, einer klaren Einordnung in „heilig“ oder „unheilig“ zu entziehen.

Pius XII. hat Enzykliken geschrieben, die „Mystici Corporis“ oder „Divino afflante Spiritu“ heißen, er hat die leibliche Himmelfahrt Mariens als Dogma verkündet, seit ihm sind im Kardinalskollegium, welches die Päpste wählt, Männer aus allen Erdteilen versammelt; doch was die Öffentlichkeit am meisten mit Pius XII. verbindet, ist die seit den 60er-Jahren gestellte Frage, ob er seine Stimme lauter gegen den Nationalsozialismus und die Ermordung der europäischen Juden hätte erheben müssen. Er selbst schrieb in sein Testament: „Sei mir gnädig, oh Herr, nach deiner großen Barmherzigkeit. Die Mängel und Fehler, die während eines so langen Pontifikates und in solch schwerer Zeit begangen wurden, haben mir meine Unzulänglichkeit klar vor Augen geführt.“ Hatte Pius XII. vor seinem Tod ein schlechtes Gewissen?

Pius XII. rettete hunderttausenden Juden das Leben

Pater Gumpel hält den Eintrag von Pius XII nicht für schlechtes Gewissen, sondern für die Bescheidenheit und die Demut eines Mannes, der bis heute verkannt wird. Es fange schon damit an, sagt Pater Gumpel, dass Pius XII., Jurist, Diplomat, Theologe, nach außen asketisch und streng wirkend, in Wirklichkeit kein Diplomat habe sein wollen: „Er wollte weder Kardinal noch Staatssekretär werden, er wollte ein Bistum leiten und pastoral tätig sein. Das entspricht eigentlich dem, was jeder Priester in seinem Herzen fühlen muss.“

Vor allem aber ist Pater Gumpel sicher, dass Pius XII. im Zweiten Weltkrieg getan habe, was er tun konnte: „Pius XII. hat hunderttausenden Juden das Leben gerettet. Was er in Rom und Italien und darüber hinaus in allen von den Nazis besetzten Gebieten für die verfolgten Juden getan hat, ist eine hohe Leistung.“


Seine schweren Wälzer, sagt Gumpel, zeigten den wahren Pius. Sie erzählten von Pius' jüdischem Schulfreund Guido Mendes; von den Briefen an die Nuntiatur in Budapest, in denen Pius XII. den Nuntius anwies, alle kirchlichen Einrichtungen verfolgten Juden zur Verfügung zu stellen; von den Juden, die Pius in römischen Kirchen und Klöstern vor den deutschen Besatzungstruppen in Rom in Sicherheit brachte; von der Enzyklika „Mit brennender Sorge“ aus dem Jahr 1938, die den Nationalsozialismus verurteilt habe, und deren eigentlicher Autor der spätere Papst Pius XII. gewesen sei; und von der Weihnachtsansprache von 1942, in welcher der Papst seine Sorge ausdrückte um „die Hunderttausenden, die ohne eigenes Verschulden, bisweilen nur wegen ihrer Nationalität oder Rasse, dem Tode oder fortschreitender Vernichtung preisgegeben sind.“


Pater Gumpel fragt: „Was hätte er denn noch machen können?“ Aus heutiger Sicht scheint vor allem eins zu fehlen: der undiplomatische Aufschrei vor dem doch heute so Eindeutigen. Was immer er auch gebracht hätte.

Ein Aufstampfen des Papstes hätte nicht geholfen

„Mir wäre es persönlich lieber gewesen, man hätte das nicht so still und leise und diplomatisch getan, wie das Pius XII. wohl getan hat“, mahnte etwa kürzlich der deutsche Rabbiner Walter Homolka im „Radio Vatikan“. Das Problem sei, sagte Homolka, „dass durch einen solchen stillen Einsatz der Papst eigentlich keine Vorbildfunktion für wirklichen Widerstand wahrnehmen konnte.“

Das ist das, was Pater Gumpel oben in seinem Büro mit der „Leichtigkeit der Nachgeborenen“ meint: „Sie können sich doch gar nicht vorstellen, was eine durchorganisierte Diktatur ist“, sagt er. Er glaubt nicht daran, dass ein symbolisches, wütendes Aufstampfen des Papstes geholfen hätte – im Gegenteil: „Ich erzähle Ihnen jetzt mal etwas. Ich war am 26. Juli 1942 in Holland im Gottesdienst und habe gehört, wie der Bischof die laufenden Deportationen der Juden verurteilte.“ Auch er habe staunend in der Kirche gestanden: „Ich dachte einerseits: ‚Hut ab vor soviel Mut!' Und andererseits dachte ich mir: ‚Du weißt ja nicht, was du da anrichtest!'“ Denn nach dem Hirtenbrief wurden die Deportation der Juden beschleunigt und auch getaufte Juden nach Auschwitz abtransportiert. Papst Pius XII. dürfte durch die Ereignisse in Holland in seiner vorsichtigen Haltung bestärkt worden sein.

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Für die Juden von Rom wurde Pius XII. durch stille Hilfe zum Helden. Im Oktober 1943 forderte die deutsche Besatzung 50 Kilogramm Gold von der jüdischen Gemeinde in Rom innerhalb von 24 Stunden, 35 Kilo brachte sie auf, dann wandte man sich an den Vatikan, man versprach Gold und Dollar. Es half nichts. Bei einer Razzia vom 15. auf den 16. Oktober wurden im jüdischen Ghetto rund 1200 Juden verhaftet. Daraufhin wies Pius alle Kirchen und Klöster an, Juden aufzunehmen. Auch Castel Gandolfo. Im Schlafzimmer des Papstes, so heißt es, seien damals mehrere jüdische Kinder auf die Welt gekommen.

In der Via della Luce im Viertel Trastevere verhaftete deutsches Militär auch die Onkel und Tanten von Michele Sonnino. Er ist heute 56 Jahre alt und bäckt koschere Pizza, 100 Gramm für einen Euro. Hätte Pius XII. auch sie retten müssen? „ Wie könnte man das heute sagen“, sagt Michele, „damals waren die Umstände eben ganz andere.“ Als Pius XII. 1958 starb, schrieb die israelische Außenministerin und spätere Premierministerin Golda Meier: „Wir trauern. Wir haben einen Diener des Friedens verloren. Die Stimme des Papstes war während der Nazizeit klar, und sie verteidigte die Opfer.“ Auch zeitgenössische Zeitungskommentare erwecken den Eindruck, als habe die ganze Welt damals dasselbe gefordert, wie zuletzt bei Johannes Paul II.: „Santo subito!“ – „Sofort heilig sprechen!“

Juden setzen sich für Pius ein

Doch dann, 1963, kam der deutsche Dramatiker Rolf Hochhuth. „Ein wissenschaftlicher Scharlatan“, sagt Pater Gumpel. „Unwissenschaftlich arbeiten“ ist für Gumpel etwas sehr Verwerfliches. Doch Hochhuth nahm es als Dramatiker nicht allzu genau mit den Akten – trotzdem wirkt das Bild, welches seine Theaterstück „Der Stellvertreter“ von Pius XII. zeichnete, bis heute nach. „Ein Stellvertreter Christi, der das vor Augen hat und dennoch schweigt, ein solcher Papst ist ein Verbrecher“, heißt es darin.

Es war der Auftakt zu dem, was Pater Gumpel „diese Passionalität“ nennt – unwissenschaftliches Polemisieren: Der britische Autor John Cornwell warf 1999 im Buch „Hitlers's pope. The secret history of Pius XII.“ („Pius XII. – der Papst, der geschwiegen hat), dem Papst Antisemitismus und Inkaufnahme der Deportation der römischen Juden vor. „Das Differenzierungsniveau von Cornwell und auch Goldhagen genügt wissenschaftlichen Ansprüchen kaum“, meint jedoch Holger Arning, der zusammen mit dem wichtigsten deutschen Pius-Historiker, Hubert Wolf, forscht.

Am Donnerstag feiert Papst Benedikt XVI. einen Gottesdienst zu Ehren Pius XII. „Weil der Papst das persönlich macht, ist wohl davon auszugehen, dass er auch etwas Positives über Pius sagen wird“, sagt Pater Gumpel. Ob er eine Seligsprechung ankündigt? Bei einem Zusammentreffen mit Juden, die sich in einem Verein für Pius XII. einsetzen, regte der Papst kürzlich „gründliche und ideologiefreie historische Studien“ an, „um jedes bestehende Vorurteil zu überwinden“. Neues Material kommt in zehn bis 20 Jahren, wenn alle Akten zu Pius XII. zugänglich sind. Pater Gumpel kennt sie zum Teil. „Nichts Herausragendes. Aber ich wette, es wird dann heißen, der Vatikan habe belastende Dokumente vernichtet.“ Seligsprechen, so meint er, könne man Pius XII. auch schon jetzt. „Aber ich weiß nicht, wann es passieren wird. Ich bin kein Prophet, und ich habe hier auch keine Kristallkugel stehen“, sagt er. „Aber es wird passieren.“

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