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Zweiter Weltkrieg Rufmord

Wie aus Pius XII. „Hitlers Papst“ wurde

Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“ hatte 1963 in Berlin Premiere. Bis heute arbeiten sich Vatikan und Katholiken erfolglos an der wüsten Polemik gegen Papst Pius XII. und seiner Rolle ab.
Leitender Redakteur Geschichte
„Ein solcher Papst ist ein Verbrecher“: In seiner Philippika gegen Pius XII. (r.; 1876-1958) legt der Schriftsteller Rolf Hochhuth (l.; Jg. 1931) seine Kernthese einem jungen Jesuiten in den Mund „Ein solcher Papst ist ein Verbrecher“: In seiner Philippika gegen Pius XII. (r.; 1876-1958) legt der Schriftsteller Rolf Hochhuth (l.; Jg. 1931) seine Kernthese einem jungen Jesuiten in den Mund
„Ein solcher Papst ist ein Verbrecher“: In seiner Philippika gegen Pius XII. (r.; 1876-1958) legt der Schriftsteller Rolf Hochhuth (l.; Jg. 1931) seine Kernthese einem jungen Jesui...ten in den Mund
Quelle: pa/dpa

Der Satz hat, kein Zweifel, Saft und Kraft: „Ein Stellvertreter Christi, der das vor Augen hat und dennoch schweigt, aus Staatsräson: Ein solcher Papst ist ein Verbrecher.“ Diese Worte schleudert Riccardo Fontana, junger Jesuit aus bester römischer Familie, seinem adligen Vater entgegen. „Das“ ist die „Endlösung der Judenfrage“, der millionenfache Mord an völlig unschuldigen Menschen aus Rassenhass, der Holocaust.

Der Satz stammt aus dem zweiten Akt von Rolf Hochhuths Schauspiel „Der Stellvertreter“. Es löste, bald nach seiner mit allen seinerzeit verfügbaren Tricks des Marketings inszenierter Premiere im Berliner „Theater am Kurfüstendamm“ am 20. Februar 1963, eine weltweite Kontroverse aus.

Sie machte den Autor Hochhuth weltberühmt. Und sie zerstörte mit einem Schlag und dauerhaft den Ruf der Titelfigur: Aus dem „Stellvertreter“, nämlich Papst Pius XII. (1876-1958, im Amt seit 1939), wurde im Bewusstsein der abendländischen Öffentlichkeit nichts weniger als „Hitlers Papst“.

Seit einem halben Jahrhundert wird nun schon gestritten über die Rolle des vormaligen Nuntius in Deutschland Eugenio Pacelli, der im und nach dem Zweiten Weltkrieg Oberhaupt der katholischen Kirche war. Hunderte Bücher, Tausende Aufsätze und Zehntausende Zeitungsartikel in praktisch allen abendländischen Sprachen sind in dieser Zeit erschienen.

Das Konkordat mit dem Dritten Reich

Die Argumentationskette der Pius-Gegner ist dabei schlicht. Als Kardinalstaatssekretär, also Regierungschef des Vatikans, hatte Pacelli 1933 das Reichskonkordat mit der Regierung Hitler unterzeichnet und damit dem eben erst etablierten Regime den ersten außenpolitischen Erfolg ermöglicht – also müsse er Sympathien für die Nazis gehabt haben.

Zumal er keineswegs Verfechter eines konstruktiven Dialogs von Juden und Christen war. Vielmehr stand er in der Tradition des christlichen Antijudaismus. Das allerdings war vor dem Holocaust ohnehin die Position der weitaus meisten Christen weltweit.

Schließlich war Pius XII. Antikommunist. Das kann nicht wirklich überraschen angesichts der radikal antikirchlichen Propaganda der sowjetischen und europäischen Bolschewisten und ihrer oft handgreiflichen Gewalt. Trotzdem liegt bei einer solchen Darstellung der Schluss nahe: Pius XII. sei NS-Sympathisant, Judengegner, Antikommunist gewesen – also müsse er „Hitlers Papst“ gewesen sein.

Näher an der komplexen Wirklichkeit argumentieren die meisten Verteidiger von Pius XII. Sie betonen die schwierige Lage, in der sich Pacelli schon 1933 befand, als SA und Polizei zeitweilig regelrecht Jagd auf Katholiken machten. Dagegen habe der Vatikan nur wenige Mittel gehabt, zumal die deutschen Bischöfe stets darauf drangen, das Regime nicht zusätzlich zu provozieren.

Radioansprachen des Papstes

Außerdem hatte 1937 Pius XI. den vielfachen Bruch des Konkordats in seiner Enzyklika „Mit brennender Sorge“ gegeißelt – verfasst zu weiten Teilen von Pacelli. Die Reaktion des NS-Staates auf die insgeheim vorbereitete Verlesung und Verbreitung des Dokuments war eindeutig: Polizei und Verwaltung setzten die Kirche massiv unter Druck.

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Es kam zu Tausenden Hausdurchsuchungen, Hunderten Festnahmen, Enteignungen. Goebbels persönlich inszenierte eine Kampagne gegen die „Sexualpest“ von Priestern, die mit „Stumpf und Stil auszurotten“ seien. In seinem Propagandaapparat war von mehr als 5000 Fällen die Rede; am Ende kam es zu 58 Anklagen und 22 Verurteilungen, obwohl Prinzipien des Rechtsstaates schon längst nicht mehr eingehalten wurden.

Es mag diese vergessene Facette gewesen sein, die Erzbischof Erhard Ludwig Müller im Hinterkopf hatte, als er kürzlich seine umstrittene Äußerung zu einer angeblichen „Pogromstimmung“ machte. Die Assoziation war natürlich überzogen, aber doch aus kirchlicher Position nicht völlig absurd.

Da außer massiver negativer Folgen für engagierte deutsche Katholiken die Enzyklika „Mit brennender Sorge“ ohne politischen Auswirkungen geblieben war, entschied sich Pius XII., keine weitere derartig spektakuläre Aktion zu starten. Geschwiegen hat der Papst in den folgenden Jahren dennoch nicht: Im Gegenteil hat er mehrfach auf das Leid der europäischen Juden in Radioansprachen aufmerksam gemacht.

In der Pro-Pius-Ausstellung „Opus Iustitiae Pax“ von 2009 war im Abschlussraum unter der aphoristischen Überschrift „Hier hören Sie das Schweigen des Papstes“ die Weihnachtsansprache von 1942 zu hören. Darin sprach der Papst von Hunderttausenden, die „nur ihrer Abstammung wegen dem Tod geweiht oder fortschreitender Vernichtung preisgegeben sind“.

Vatikan-Gelder für die alliierte Rüstung

Hat Pius XII. genug getan gegen den Holocaust? Im moralisierenden Rückblick natürlich nicht, noch weniger, wenn wie bei Hochhuth die Wut der Jugend den Moralismus befeuerte. Doch einem solchen komplett ahistorischen Maßstab kann niemand genügen.

Nüchtern betrachtet jedoch hat der Papst wohl sehr viel von dem getan, was er tun konnte. Jüngst erst wurde durch freigegebene britische Geheimdienstunterlagen bekannt, dass die Vatikanbank Gelder von Verfolgten aus Europa in die USA transferierte. Ähnlich sahen das auch sehr viele Zeitgenossen und italienische Juden, die der katholischen Kirche mindestens mit Duldung, eher mit Unterstützung des Papstes ihr Leben verdankten.

Dennoch trägt der Vatikan Mitverantwortung für die Dauerhaftigkeit des Rufmordes an diesem Papst. Zwar hat Papst Paul VI. die Veröffentlichung von repräsentativen Dokumenten aus dem Geheimarchiv des Vatikan angeordnet. In elf Bänden erschienen von 1965 bis 1983 annähernd 5100 Dokumente, freilich ausnahmslos in Originalsprache, also meisten italienisch, und ohne nennenswerte Erläuterungen. Der Materialfundus ist komplett online.

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Doch über diese Veröffentlichung hinaus blieben die Bestände zu Pius XII. weitere Jahrzehnte verschlossen und sind es teilweise noch immer. Da lag und liegt die Vermutung nahe, die wirklich brisanten Schriftstücke seien ausgesiebt worden. Auch eine vollständige Öffnung würde wohl die Kritiker nicht mehr umstimmen können.

Vermeintliches Schweigen eines Papstes

Stattdessen trieben mehrere Päpste, zuletzt der scheidende Benedikt XVI., das Seligsprechungsverfahren für Pius XII. voran. Das verstanden Vatikankritiker als offenen Affront gegen ihre Forderungen nach Aufklärung. Längst sind die Fronten so festgefahren, dass wohl schon eine Unterbrechung des Verfahrens als „Schuldeingeständnis“ gewertet werden würde – und genau deshalb scheidet diese Möglichkeit aus. In solcher Atmosphäre ist eine sachliche Beurteilung des Papstes völlig unmöglich.

Der Grund dafür ist der moralische Furor Rolf Hochhuths, der mit dem Premiere des „Stellvertreters“ 1963 seinen Ausgang nahm und sich bis in die jüngste Zeit fortsetzt, etwa in einem Interview mit der „Welt“. Mit der Wirklichkeit hat das alles wenig bis nichts zu tun.

Aber es ist eben viel beqeumer, das vermeintliche Schweigen eines Papstes mitverantwortlich zu machen für den Massenmord als die Mitwirkung von Millionen „arischen“ Deutsche, die mindestens weggeschaut, oft profitiert und nicht selten mitgetan haben.

Szene aus der Berliner Inszenierung des "Stellvertreters“ mit (v. l.) Malte Jaeger, Günther Tabor und Hans Nielsen
Szene aus der Berliner Inszenierung des "Stellvertreters“ mit (v. l.) Malte Jaeger, Günther Tabor und Hans Nielsen
Quelle: picture alliance / Gerhard O. Ae

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