Missbrauch. Teil 1

29. Mai 2013


Oder: So katholisch sind die Grünen.

Es hat in der Vergangenheit katholische Priester gegeben, die Kinder sexuell missbraucht haben. Vor drei Jahren wurde dies einer breiten Öffentlichkeit bekannt, die daraufhin „die Kirche“ für die Vergehen verantwortlich machte. In einer (zumindest nach den von deutschen Zeitungen begleiteten Sittlichkeitsprozessen der Nazis in den Jahren 1936/37) beispiellosen antikirchlichen Medienkampagne wurde mit großem Einsatz das Thema Missbrauch katholisch gerahmt, obwohl bekannt ist, dass nur ein sehr geringer Prozentsatz der katholischen Priester Täter und nur ein sehr geringer Prozentsatz der Täter katholische Priester sind. Doch jenseits der Fakten war Deutschland vor drei Jahren – zum ersten Mal nach der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 – wieder ein Herz und eine Seele, vereint im Kampf gegen die Katholische Kirche, die man wenig später ganz legal „Kinderficker-Sekte“ nennen durfte und die sich daraufhin gezwungen sah, sehr, sehr weitreichende Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Reputation wieder herzustellen, nachdem sie, die Katholische Kirche in Deutschland, bereits im September 2002 eine Richtlinie „zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche“ formuliert hatte, diese aber außerhalb der Kirche kaum zur Kenntnis genommen wurde (mittlerweile gibt es eine überarbeitete Fassung von August 2010, die als einzigartig und beispielhaft gelobt wird, weil die Kirche damit weit mehr macht, als sie von Rechtswegen müsste – und auch mehr als alle anderen Institutionen der Gesellschaft).

Aber wen interessiert das – es geht gegen die Kirche! Alle machten kurzfristig mit, weil man dabei nichts falsch machen konnte, so als Qualitätsmedium, das seine Leserschaft in jedem Fall zufrieden stellen will, so als Partei, die eine leicht antiklerikale Stimmung verbreiten muss, um bei ihren Wähler_innen anzukommen. Dass täglich in Deutschland doppelt so viele Kinder sexuell missbraucht werden wie in 50 Jahren „Kirchenterror“ spielte nie eine Rolle. Hauptsache, es wagt nie wieder jemand, einen Bericht über das Pfarrfest zu schreiben, ohne die Frage zu beantworten, ob denn der Geistliche den Missbrauch thematisiert hat. Warum auch immer. Ich habe, unter massivem Widerspruch, den medialen Missbrauch des Missbrauchs mehrfach thematisiert, weil ich der Meinung bin, dass es zwar sehr gut ist, dass endlich über Missbrauch gesprochen wird, dass es aber sehr schlecht ist, dass dies am Beispiel der Fälle innerhalb der Kirche geschieht. Das ist nicht in erster Linie für die Kirche schlecht, sondern für die Opfer. Denn die allgemeine Wahrnehmung des Missbrauchs als rein oder vorwiegend katholisches Problem macht eine Aufdeckung der gesellschaftlichen Dimension schwierig. Nur diese Aufdeckung würde aber die Chance bieten, tatsächlichen und potentiellen Opfern zu helfen.

Besonders deutlich zeigt sich die Fixierung der Medien auf die Kirche beim Thema Missbrauch an einem Beispiel, dass so gar nicht ins Bild passen will: Odenwald. Der an der reformpädagogisch orientierten Odenwaldschule, die auf so illustre Absolventen wie Daniel Cohn-Bendit stolz sein kann, über viele Jahre hinweg systematisch und flächendeckend praktizierte Missbrauch war sehr schnell wieder aus der Berichterstattung verschwunden, um Berichten über Missbrauch in der Kirche Platz zu machen, obgleich man an der Odenwaldschule nicht nur ein echtes Musterbeispiel an Vertuschung und Verharmlosung vorfand (seit 1999 sind die Vorwürfe bekannt – getan hat sich bis 2010 nichts, bis zum Beginn des „Missbrauchsskandals“, der sich aber ausschließlich auf die Fälle in der Katholische Kirche richtete), sondern zudem die Einsicht der Täter in ihre Schuld lange Zeit überhaupt nicht vorhanden war, zu sehr war der Missbrauch als Fanal der Freiheit gegen die „Spießergesellschaft“ (an deren Spitze: die Kirche) gefeiert worden, so sehr, dass sich das Unrechtsbewusstsein kaum den rechten Platz im Gewissen verschaffen konnte. Beispiel: Haupttäter Gerold Becker, über den der Abschlussbericht der Kommission zur Aufklärung der Verbrechen an der Odenwaldschule ein unfassbares Horrorprofil erstellt („Pädophiler in einem permanenten sexuellen Erregungszustand“), entschuldigte sich nur halbherzig und blieb bis zu seinem Tod im Juli 2010 der Ansicht, im Grunde ja nichts Schlimmes getan zu haben, offenbar auch nicht mit dem Jungen, den er, damals verantwortlich als Schulleiter, mutmaßlich „bis zu 400-mal missbraucht“ hat. Becker soll dem ehemaligen Schüler Björn Behrens gegenüber lächelnd zur Kenntnis gegeben haben, er, Becker, habe damals „eine gute Zeit“ gehabt, wie das Christliche Informationsforum Medrum unter Berufung auf den Dokumentarfilm Geschlossene Gesellschaft – Der Missbrauch an der Odenwaldschule von Luzia Schmid und Regina Schilling berichtet. Man stelle sich – nur ganz kurz – vor, ein Täter aus Kirchenkreisen äußerte sich in dieser unverfrorenen Art und Weise über seine Vergangenheit als Kinderschänder. Ein einziger Aufschrei! Hier: Schweigen. Das heißt – nicht ganz: Beckers Lebensgefährte, der renommierte Reformpädagoge Hartmut von Hentig (84), hatte gesagt, er könne sich gar nicht vorstellen, dass Becker je den Willen eines Kindes gebrochen habe; wenn es überhaupt zu sexuellen Handlungen zwischen ihm und Schülern gekommen sei, dann wohl nur, weil die Schüler ihren Lehrer Becker „verführt“ hätten, jene Schüler, die zum Teil hunderte Male den geilen Gerold ertragen mussten, jene Schüler, die als „Spießer“ gemobbt wurden, wenn sie bei diesen sexuellen Übergriffen nicht „mitspielten“, jene Schüler, die man noch 2008 auf die Anfrage hin, wie man denn beim 100jährigen Jubiläum der Odenwaldschule mit den Missbrauchsfällen umzugehen gedenke, mit der Antwort abspeiste, die Vergangenheit werde „eher kursiv“ behandelt werden. Hier meldet sich dann gleich mal Claudia Roth zu Wort, die von „Verhöhnung der Opfer“ sprach – ach, nein, das war ja zu Walter Mixa, der eben jener 68er-Mentalität, die bei Cohn-Bendit, Becker und von Hentig aus allen Poren trieft, eine Mitschuld an der sittlichen Verirrung von Priestern gab, die sich an Kindern vergriffen („Die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig.“).

Bei den Katholiken bekommt jeder Fall einen eigenen Artikel, zu den Reformpädagogen ist dann in einer Randnotiz zu lesen, es seien über 1000 Fälle bekannt. Leugnung, Schönfärberei („erotische Nähe“) und Selbstmitleid werden bei Reformpädagogen hingenommen. Reuevolle Bitten von Priestern um Entschuldigung und Vergebung stehen unter dem Generalverdacht, nicht ernst gemeint zu sein. Entschuldigt sich ein Bischof, obwohl er selbst gar keine Schuld trägt, dann hagelte es Häme. Entschuldigt sich ein Reformpädagoge nicht, weil er gar keine Schuld sieht, dann erntet er Verständnis. Bis hin zur Beurteilung der Entschädigungspraxis reicht die Doppelmoral.

Wie stark die assoziative Verbindung von Kirche und Missbrauch in den Medien ist, zeigt sich auch immer dann, wenn bei Meldungen über Missbrauch reflexartig eine Verbindung zum Klerus ge- oder besser: erfunden wird. Da wurde dann im Übereifer auch schon mal der Papst verantwortlich gemacht für die systematische, flächendeckende, jahrzehntewährende, zu Beginn als „Familienarbeit“ und am Ende als „emotionale Zuwendung“ und „Nähe“ verklärte sexuelle Ausbeutung hunderter Schülerinnen und Schüler durch mehrere bzw. mit Hilfe von mehreren „Reformpädagogen“: „Papst soll sich zu Odenwald äußern“ titelte die Frankfurter Rundschau, ohne auch nur im Radius von Mikrometern „rundgeschaut“ zu haben. Ein Versehen, sicherlich. Kann passieren, auch einer renommierten Zeitung. Klar. Aber dass es einige Stunden dauerte, bis der Irrtum auffiel, zeigt, wie sehr der Konnex Kirche/Missbrauch die Gedanken in den Redaktionsbüros beherrscht, wie schnell und wie sehr die Berichterstattung einen Kampagnencharakter angenommen hat. Das setzt sich auch in einer „gelenkten Rezeption“ fort: Neben Berichten zu Odenwald und vergleichbaren Fällen, die regelmäßig nur selten und moderat kommentiert werden (etwa Berichte zum „beachtlichen Umfang“ des sexuellen Missbrauchs in den 474 staatlichen Kinderheimen der DDR, wie dem im Focus vom April 2010, der ganze vier mal kommentiert wurde), finden die gelangweilten User glücklicherweise Banner, mit denen sie auf Berichte zu Missbrauchsfällen in kirchlichen Einrichtungen (na, endlich!) weitergeleitet werden, um diese dann häufig und scharf zu kommentieren, damit die kleine Welt wieder in Ordnung kommt. – Die Frage, die sich stellt: Ist das noch Wahnsinn oder hat das schon Methode? Egal – es ist erfolgreich: Die Umfrage ARD-Deutschlandtrend vom 19. März 2010 lieferte das erschütternde Ergebnis, dass neun Prozent der Deutschen sicher sind, das sexueller Missbrauch ausschließlich in kirchlichen Einrichtungen vorkommt. Für jeden elften Deutschen gibt es keinen Missbrauch in Familien, Sportvereinen, staatlichen Schulen, humanistisch-reformpädagogischen Internaten, Ausbildungsbetrieben. These: Dieses Ergebnis hätte es vor fünf Jahren nicht gegeben.

Die Meinung, wie hoch der Prozentsatz von Priestern an den Tätern und Tätern unter den Priestern konkret ist, mag weit auseinandergehen – abhängig auch von der unterschiedlichen Einschätzung der Dunkelziffer innerhalb kirchlicher Einrichtungen. Es hat aber – soviel steht zweifelsfrei fest – niemals in der katholischen Kirche die Auffassung gegeben, Sex mit Kindern sei kein Missbrauch, sondern ein Wohlverhalten dem Kind gegenüber, das gefördert gehört, statt es zu verbieten. Insofern lässt sich die Normkritik (etwa hinsichtlich des Zölibats) im Zusammenhang mit dem Missbrauch selbst mit der größten Mühe gedanklicher Schwerstarbeit nicht nachvollziehen. Dass man von Handlungen statt auf ungünstige Handlungsdispositionen auf ungünstige Normen verweist, die die Handlung als unrichtig darstellen, sie aber dennoch herbeigeführt haben sollen, ist schlicht absurd. Eine „Lockerung“ der katholischen Sexualmoral (was immer man genau darunter versteht – ich komme später darauf zurück) ist etwa so, als würde nach der Mordtat eines Deutschen das deutsche Volk die Abschaffung von § 211 StGB verlangen. So als sei die – zugegeben – strenge Norm, Niemanden zu ermorden, verantwortlich dafür, dass dies doch ab und zu passiert. Und noch etwas: Gerade potentielle Täter haben ein Interesse daran, dass die betreffende Norm aufgeweicht wird, während potentielle Opfer daran interessiert sein dürften, dass sie mit aller Strenge zur Anwendung kommt. Wem wäre also gedient mit einer „Lockerung“ der katholischen Sexualmoral? – Noch einmal: Für die Kirche gibt es keinen Zweifel: Sex mit Kindern ist Missbrauch. Immer.

Eine andere Position vertraten einst Teile der Grünen. In ihrem Umfeld gab es – ausgehend von der Befreiungsrhetorik der 68er-Bewegung – sehr wohl die Auffassung, Sex mit Kindern (obgleich in Deutschland zu jeder Zeit verboten, derzeit nach § 176 StGB) sei eine unproblematische Angelegenheit, soweit der Kontakt „freiwillig“ zustande komme und „gewaltfrei“ ablaufe. Dann, so die Auffassung, sei er ein Beitrag zur Befreiung von einer spießbürgerlichen Moral, die nur unter dem Druck der Kirche rechtsverbindlich werden konnte. So kam es zur Duldung pädophiler Kreise innerhalb der Partei und an ihrem ideologischen Rand (vgl. dazu den Pflasterstrand), so kam es zur Zuspitzung des politischen Programms der Befreiung von angeblich überkommenen Familienkonzepten auf Pädosexualität und so kam es – unter Federführung verurteilter Missbrauchsstraftäter – schließlich im Jahr 1985 zu einem Parteitagsbeschluss der Grünen im Landesverband Nordrhein-Westfalen, der Straffreiheit für „gewaltfreien Sexualverkehr“ mit Kindern forderte und – im gleichen Jahr – zu einem Antrag der grünen Bundestagsfraktion, die §§ 175 und 182 StGB ersatzlos zu streichen, da diese „einvernehmliche sexuelle Kontakte“ mit Minderjährigen unter Strafe stellten und dadurch „die freie Entfaltung der Persönlichkeit“ behinderten. Manfred Lütz erinnert daran, dass erst „Ende der achtziger Jahre […] vor allem feministische Beratungsstellen zu Recht klargemacht [haben], dass es keine gewaltfreien sexuellen Beziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen gibt“. Das hinderte Volker Beck, aktuell u. a. menschenrechtspolitischer Sprecher der grünen Bundestagsfraktion, nicht daran, in dem ebenfalls „Ende der achtziger Jahre“ erschienenen Sammelband Der pädosexuelle Komplex ein „Plädoyer für eine realistische Neuorientierung der Sexualpolitik“ zu halten, in dem er eine Novellierung der Rechtslage dahingehend fordert, dass „das jetzige ,Schutzalterʻ von 14 Jahren zur Disposition [ge]stellt“ oder „eine Strafabsehensklausel“ eingeführt wird, denn: „ Eine Entkriminalisierung der Pädosexualität ist angesichts des jetzigen Zustandes ihrer globalen Kriminalisierung dringend erforderlich“. Gegen den „Ende der achtziger Jahre“ längst bekannten Umstand, dass Sex mit Kindern immer (zumindest psychische) Gewalt an Kindern und damit Schaden für Kinder bedeutet, stellt Beck „die Frage einer eventuellen Schädigung eines Kindes durch sexuelle Kontakte mit einem Erwachsenen“ (Hervorhebung von mir) trotzig als eine völlig offene, für deren Beantwortung es eine öffentliche Auseinandersetzung brauche. Ihm gehe es sonst vor allem darum, etwas für „die Lebenssituation der pädophilen Menschen [zu] erreichen“.

Bettina Röhl schreibt in der Wirtschaftswoche, dass „pädophile Abseitigkeiten“ in den Gründerjahren der Grünen (1979/80) „zum Kern der bunten Kaleidoskop-Partei“ gehörten. Offenbar auch noch ein paar Jahre länger. Doch ob Zentrum oder Peripherie – wie die Zusammenhänge zwischen Pädophilenszene und Partei genau (gewesen) sind, wird die nun in Auftrag gegebene wissenschaftliche Studie des Politologen Franz Walteranhand der Quellen hoffentlich zu Tage fördern, auch wenn zu befürchten ist, dass dabei „gemauert“ werden wird, um sich „kurz vor der Bundestagswahl […] vor negativen Schlagzeilen [zu] schützen“ (Christian Pfeiffer – ja, genau der). Dennoch: Zunächst ist der Wille zur Aufklärung begrüßenswert, denn fest steht, dass es wohl nötig ist, Licht in die dunkle Vergangenheit zu bringen.

Dass die Grünen keineswegs alleine einen Grund haben, sich ihrer Historie zu erinnern, zeigt ein Blick auf die Ideengeschichte der 68er-Bewegung, die in Sachen Pädosexualität „ideologisch führend“ (Alice Schwarzer) war. Wenn es darum geht, den von der Kirche unterdrückten Pädophilen zu ihrem Glück zu verhelfen, sind Denkzirkel und Medizinerbünde, Psychologen und Pädagogen, weltanschauliche Vereinigungen und meinungsführende Medien in den 1970er und 80er Jahren stets zur Stelle – zum Teil auch darüber hinaus. Oft sind es genau die, die heute an vorderster Front stehen, wenn es gegen die Kirche geht, Pardon: gegen den Missbrauch in der Kirche, also gegen den Missbrauch überhaupt. Vertiefendes dazu in einem zweiten Teil.

Also, in einer Kultur, in der Missbrauch katholisch ist, sind die Grünen sehr nahe an die Kirche herangerückt. „Kinderficker-Versteher-Partei“ fände ich jetzt aber trotzdem überzogen.

(Josef Bordat)

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