Kleiner Frieden im Großen Krieg

28. Juli 2014


Gedanken zum Film Merry Christmas (2005), hundert Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

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I. Hintergrund und Handlung des Films

1. Historischer Hintergrund

Als der Erste Weltkrieg vor hundert Jahren ausbricht, jubelt Europa. Hunderttausende junger Männer aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland melden sich, um in einen Krieg zu ziehen, von dem jeder, der an ihm teilnahm, dachte, er sei gerecht, glorreich und abenteuerlich. Bei den Deutschen, die besondere Kriegsbegeisterung zeigten, führte die Erinnerung an die drei siegreichen Einigungskriege, insbesondere an den Sieg über Frankreich (1871) zu einer besonderen Motivation, was nicht verwundert, wurde dieser Sieg doch kulturell tradiert, um ihn im kollektiven Gedächtnis zu verwurzeln und auch denen nahe zu bringen, die damals noch nicht lebten. Der Sedanstag, an dem der siegreichen Schlacht bei Sedan gedacht wurde, indem die Kampfhandlungen in Schulen nachgespielt wurden, ist nur ein herausragendes Beispiel für die – leider erfolgreiche – Militärpropaganda des Kaiserreichs.

Jeder kennt sie, die Bilder mit fröhlichen jungen Männern in Eisenbahnwaggons, auf denen mit Kreide in Sütterlinschrift Parolen stehen, die den Zeitgeist eindrucksvoll zusammenfassen: „Auf Wiedersehen in Paris!“, „Wir sehen uns auf dem Boulevard!“ und andere Sprüche zeugen von einer Siegesgewissheit, die kaum zu beschreiben ist. Einig waren sich die Kriegsherren aller Länder darin, dass sie meinten, Weihnachten sei alles vorbei. Weihnachten 1914.

Wer Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkrieg verstehen will – soweit man einen Krieg „verstehen“ kann – sollte zweierlei im Hinterkopf haben: 1. den Unterschied zwischen „Kriegsauslöser“ und „Kriegsursache“ sowie 2. die militärstrategische und -technische Besonderheit des Ersten Weltkriegs.

Kriegsauslösend war das tödliche Attentat eines serbischen Nationalisten auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajewo. Österreich „musste“ handeln, der „Krieg gegen den Terror“ war damals schon ein wichtiges Postulat der Machtpolitik, und griff Serbien an. Österreich konnte Serbien jedoch nur angreifen, wenn das verbündete Deutsche Reich mitmachte, was wiederum der Zar von Russland als Partner Serbiens nicht zulassen konnte. Jedenfalls nicht ohne die Hilfe seiner Verbündeten aus Frankreich. Diese waren aber von den Deutschen nur zu kontrollieren, wenn sie jene über Belgien angriffen, was die Briten nicht dulden mochten. Diese Konstellation führte zum Ersten Weltkrieg, in den 1917 die USA auf Seiten der Entente-Mächte Frankreich und Großbritannien kriegsentscheidend eingriffen.

Die Kriegsursachen liegen jedoch woanders: Im ungezügelten Imperialismus der fünf europäischen Großmächte – Preußen/Deutsches Reich, Österreich-Ungarn, Russland, Großbritannien und Frankreich. Das Gleichgewicht der Kräfte, Hauptergebnis des Wiener Restaurationskongresses 1815, wurde gestört, weil das 1871 gegründete Deutsche Reich – kolonialpolitisch mit reichlich Minderwertigkeitskomplexen beladen, nachdem die Rivalen England und Frankreich Afrika unter sich hatten aufteilen können – unter Kaiser Wilhelm II. (seit 1888) plötzlich Weltmachtpläne hegte, eine Flotte aufbaute, damit die Seemacht England provozierte, afrikanische Kolonien erhielt (z. B. die heutigen Staaten Kamerun und Togo) und in neuem Selbstbewusstein einen „Platz an der Sonne“ (Wilhelm) beanspruchte. Die auf Ausgleich gerichtete Bündnispolitik Bismarcks wurde binnen weniger Jahre durch einen aggressiven und auf Konfrontation gerichteten Alleingang zerstört. Deutschland wurde in Europa politisch mehr und mehr isoliert, nur Österreich blieb verbündet, mit den oben geschilderten Folgen.

Militärtechnisch findet der Krieg statt zwischen den „klassischen“ Landschlachten der Neuzeit und den Luftkriegen der Moderne. Eine Übergangsperiode, die im Landkrieg Panzer und Maschinengewehre als Innovationen hervorbrachte, mithin Waffen, welche die Verteidigung gegenüber dem Angriff favorisieren. Der Historiker Sebastian Haffner meinte dazu, dass sich bereits in den ersten Kriegsmonaten erwies, was für den gesamten Verlauf des Ersten Weltkrieges grundlegend wurde, dass nämlich beim Stande der damaligen Kriegstechnik die Verteidigung dem Angriff überlegen war, so dass die Offensive bestenfalls Gelände gewinnen, aber niemals eine gegnerische Großmacht, ja nicht einmal kleinere Länder wie Serbien und Belgien aus dem Kriege habe ausschalten können. Der Erste Weltkrieg habe aufgrund dieser technologischen Umstände seinen bedrückenden Charakter eines Erschöpfungskrieges entwickelt, eines immer wiederholten, strategisch unergiebigen Gemetzels.

Typisch für diesen „Erschöpfungskrieg“ ist das wochen- und monatelange Verharren in Schützengräbensowie verlustreiche Materialschlachten mit kaum nennenswerten Resultaten. Der legendäre Heeresbericht „Im Westen nichts Neues.“, den Erich Maria Remarque zum Titel seines berühmten Buches machte, steht sinnbildlich für die verfahrene Situation des Stellungskrieges an der Westfront.

In dieser militärstrategischen Lage setzt die Handlung des Films Merry Christmas ein. Kurz vor Weihnachten 1914.

2. Die Handlung des Films

Ein junger Schotte stürmt in die Kirche des besonnenen anglikanischen Priesters Palmer (Gary Lewis), läutet die Glocken und freut sich über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Sein stiller Bruder Jonathan (Steven Robertson) wird ihn ebenso an die Westfront begleiten wie der Priester, der sich als Sanitäter meldet. Mit einem Dudelsack unter dem Arm und einem Holzkreuz um den Hals zieht er in den Krieg und hofft, das körperliche und seelische Leid der Soldaten lindern zu können.

Auch der Deutsche Nikolaus Sprink (Benno Fürmann), berühmter Tenor an der Berliner Oper, wird an die Westfront rekrutiert. Von nun an dient er unter Leutnant Horstmayer (Daniel Brühl), der ihn nicht leiden kann, weil er lieber Handwerker befehligt als Künstler. Nicht genug damit, dass Sprinks Karriere durch den Krieg jäh unterbrochen wird, auch bleibt seine Gesangspartnerin und Geliebte, die dänische Sopranistin Anna Sörensen (Diane Krüger), in großer Sorge zurück.

Zur gleichen Zeit nimmt der junge französische Leutnant Audebert (Guillaume Canet) letzte Anweisungen von seinem General (Bernard Le Coq) entgegen, der – wie der Zuschauer ahnt – ein naher Verwandter ist. Audebert steht schweren Herzens an der Front: Vor Monaten musste er seine hochschwangere Frau in den von den Deutschen besetzen Gebieten zurücklassen. Noch sehnlicher als einen schnellen Sieg wünscht er sich eine Nachricht von seiner geliebten Frau und dem vielleicht schon geborenen gemeinsamen Kind.

Zwischen der Schweizer Grenze und Flandern graben sich die drei Armeen im tiefen Schlamm ein und liefern sich erbitterte, verlustreiche Gefechte. Doch dann kommt die Weihnachtsnacht, Geschenke der Familien und der Oberbefehlshaber erreichen die französischen, schottischen und deutschen Schützengräben und etwas Unfassbares geschieht. Der Tenor Sprink – von einem Kurzauftritt beim Kronprinzen Wilhelm (Thomas Schmauser) mit seiner Geliebten Anna an die Front zurückgekehrt – singt das bewegende Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“– und an der Westfront, an der vor kurzen noch der Kanonendonner grollte, wird es tatsächlich still. Erst zögernd und dann unaufhaltbar tauchen die verfeindeten Soldaten aus ihren Gräben auf und gehen aufeinander zu. Die Waffen werden niedergelegt. Französische, deutsche und schottische Soldaten die gerade noch alles taten, um sich gegenseitig auszulöschen, steigen aus den Gefechtsständen, geben sich die Hand, trinken zusammen – jeder steuert sein Nationalgetränk bei: die Franzosen Champagner, die Schotten Whisky und die Deutschen Bier -, tauschen Zigaretten und Schokolade und wünschen sich „Frohe Weihnachten“, „Bon Noël“ und „Merry Christmas“. Sie feiern zusammen einen Gottesdienst, begraben am folgenden Weihnachtsfeiertag gemeinsam ihre Toten und spielen sogar Fußball miteinander.

Doch nicht alle erreicht die friedliche Verbrüderungsstimmung, zu groß ist ihr Schmerz über den Verlust des Kameraden. Ganz besonders hart trifft es Jonathan, dessen kriegsbegeisterter Bruder kurz zuvor gefallen war. Jonathan ist verbittert und versucht, sich den Lebensmut zu bewahren, indem er seiner Mutter Briefe schreibt, in denen er ihr die reine Kriegsromantik ausmalt: Sein Bruder lebt in den Erzählungen weiter und das größte Problem der beiden ist die Schlacht um Mutters selbstgebackenen Kuchen.

Auch bleibt die grausame Realität des Krieges immer präsent. Wenn aus anderen Frontabschnitten Artilleriefeuer zu hören ist, stehen die Soldaten angespannt beieinander. Klar ist, dass der „kleine Frieden im großen Krieg“ nicht mehr ist als eine Atempause.

Als schließlich die wunderliche Geschichte den jeweiligen Heeresleitungen bekannt wird, offenbart der Krieg sein grausames Gesicht. Auf allen Seiten zeigt sich Entsetzen über den „Verrat“ an der Heimat. Doch weiß diese, was „ihre“ Soldaten an der Front erleben? Diese Frage Audeberts steht stellvertretend für den auf allen Seiten gefühlten Verrat der Heimat an ihren Soldaten. Letztlich siegt die Autorität der militärischen Hierarchie: Die an der Fraternisierung beteiligten Offiziere werden suspendiert, degradiert und mit ihren Einheiten an noch unangenehmere Fronten geschickt. Doch die Einheit Horstmeyers, die im Zug an die Ostfront (Ziel: Tannenberg) leise ein britisches Soldatenlied summt, macht deutlich: Der Befehlston, so laut und aggressiv er auch sein mag, ist nicht die letzte und höchste Artikulationsform der Menschheit.

3. Die Grundlage – eine wahre Begebenheit

Der Film gibt mit der Geschichte, die er erzählt, eine wahre Begebenheit wieder, auch wenn es unglaublich erscheint. Doch die intensive Aufarbeitung der Feldpost – sie spielt deswegen auch im Film eine herausragende Rolle – und der Lebenserinnerungen einiger Veteranen – etwa des Tagebuchs von Leutnant Zehmisch, im zivilen Leben Studienrat am Gymnasium in Plauen – brachte die Wahrheit über die Weihnachtstage 1914 an diesem Abschnitt der Westfront zu Tage. Sie bilden die Grundlage für Michael Jürgs Buch „Der kleine Frieden im großen Krieg“, auf dem das Drehbuch zu „Merry Christmas“ basiert.

Doch war die weihnachtliche Verbrüderung tatsächlich ein Wunder? Zwei Dinge sind dabei zu beachten: 1. Der Stellungskrieg, in dem sich die Soldaten auf Rufweite seit Monaten gegenüberlagen, mitunter nur dreißig Meter voneinander entfernt, hatte eigene Gesetze und schuf tatsächlich so etwas wie „Nähe“. und 2. Die allgemeine Kriegsmüdigkeit, die Erschöpfung der letzten Kräfte. Dies waren die handfesten Ursachen für den Ausbruch des „kleinen Friedens“.

Trotzdem bleibt es höchst beeindruckend, wie es schließlich gelingt, den Wunsch nach Waffenruhe zur Weihnacht Wirklichkeit werden zu lassen. Nicht nur darauf – also insbesondere auf die verbindende Rolle der Musik -, sondern auch auf weitere Aspekte des Films möchte ich im folgenden eingehen, wie etwa auf die Rolle von Erziehung und Religion, die in ihren institutionalisierten Formen – Schulen, Universitäten, Medien, Kirchen – eine wichtige Funktion als Konstrukteur kultureller Konturen einnehmen, doch nicht immer – auch heute nicht – lässt sich ihr Beitrag zur Meinungsbildung eindeutig an einem der Pole „Kriegs-treiberei“ und „Friedensethos“ verorten.

II. Die fünf wesentlichen Motive des Films

1. Die Quelle des Hasses in der Erziehung

Es ist Advent. In den Schulen werden Gedichte gelernt. Im Vorspann des Films wird – gleichsam als „Vorspann“ des Krieges – gezeigt, dass die Mobilmachung zum Ersten Weltkrieg in der Schule begann. In je einem deutschen, englischen und französischen Klassenzimmer stehen Kinder und deklamieren patriotische Gedichte, deren Botschaften eindeutige Kriegserklärungen sind, mehr noch: Aufforderungen zum Genozid, auswendig gelernt und beinahe gelangweilt aufgesagt wie ein Weihnachtsgedicht, unschuldig im Tonfall, mörderisch in der Aussage.

Es wird deutlich, dass jeder Krieg und jegliche Gewalt im erlernten Hass ihren Ursprung haben und dass dieser, wenn er anerzogen ist, gleichemaßen wieder aberzogen werden kann. So wie der Hass geschürt wird, können auch friedensethische Grundwerte wie Toleranz, Respekt, Interesse am Anderen und das völkerverbindende Moment auf dem Stundenplan stehen, das einende Band der Menschheit, das doch mit Händen zu greifen ist. Uns – als Europäer, als Menschen – verbindet dabei mehr, als wir glauben. Wir meinen manchmal die gleiche Katze, auch wenn wir ihr jeweils einen anderen Namen geben, um in der herrlichen Metaphorik des Films zu sprechen.

Die Erziehung zu Frieden, Demokratie und zur Achtung der Menschenrechte muss heute einen breiteren Raum einnehmen, wie dies in jüngster Zeit auch immer wieder angemahnt wird.[1]

Die Prinzipien einer friedensorientierten Menschenrechtserziehung sind dabei eine strikte Folgenorientierung, eine Dialogorientierung, die zur Argumentation befähigt und Gewalt als fortschrittshemmend ablehnt,[2] eine Komplexitätsorientierung, die Probleme nicht verkürzt, sondern deutlich offen legt, sowie das Kontrovers-, das Öffentlichkeits- und das Explikationsprinzip, die noch einmal auf die Bedeutung des Arguments als kontrafaktisches Moment zur Gewalt verweisen.[3]

Das Ziel der Menschenrechtserziehung ist selbstverständlich die Bildung einer neuen Generation, die Menschenrechte achtet und schützt und sensibel auf ihre Verletzung reagiert – möglichst im Rahmen friedlicher Methoden. Die Missachtung elementarer Leib- und Lebensrechte muss künftigen Generationen schwerer fallen als früheren, damit es Despoten nicht zu leicht gemacht wird, ihr Terrorregime zu entfalten und der Weltgemeinschaft Kriegsgründe zu liefern, weil der Widerstand rechtzeitig von innen kommt und nicht wie in unseren Tagen (Kosovo, Irak) von außen, meist zu spät und ausgetragen als militärische Intervention, die sich scheinheilig das Attribut „humanitär“ verleiht, obwohl es mehr um geostrategische Überlegungen und ökonomische Interessen geht. Prävention im Schulraum ist allemal wirkungsvoller als Protektion auf dem Schlachtfeld.

2. Das Absurdum des Krieges

Dass Krieg ein Absurdum ist, ergibt sich aus zahllosen Beispielen, die im Laufe der Geschichte das kollektive Gedächtnis der Menschheit bereichert haben, obgleich diese daraus kaum zu lernen scheint. Rechtzeitig zum neuen Krieg ist die Erinnerung an den Wahnsinn des alten verblasst und das clausewitz’sche Motto des Kriegs als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“[4] rationalisiert das zutiefst Irrationale.

Doch damit nicht genug. Immer wieder gibt es prominente Fürsprecher des Krieges, leider auch in der Zunft der Dichter und Denker. Der preußische Staatsidealist Hegel verteidigt in seiner Rechtsphilosophie den Krieg gegen das Friedensethos des späten Kant (Zum ewigen Frieden, 1796). Der souveräne Staat ist bei Hegel ein „Individuum“[5], das bei Divergenzen mit anderen Individuen, wenn „die besonderen Willen keine Übereinkunft finden“[6], Krieg führen muss. Doch Krieg ist für Hegel nicht nur traurige Notwendigkeit – schon das wäre zu hinterfragen -, sondern gar von überragender Nützlichkeit. Während der Friede für das „Versumpfen der Menschen“ sorge, erhalte der Krieg „die sittliche Gesundheit der Völker […], wie die Bewegung der Winde die See vor der Fäulnis bewahrt“[7]. Geradezu machiavellisch klingt Hegel, wenn er sagt: „Aus den Kriegen gehen die Völker nicht allein gestärkt hervor, sondern Nationen, die in sich unverträglich sind, gewinnen durch Kriege nach außen Ruhe im Innern.“[8] Hegel sollte Recht behalten, was die Einigung des Deutschen Reiches (1871) anging, das durch Kriege „Ruhe im Innern“ erreichte. Allerdings scheint auch heute ein Krieg oft als Ablenkung von innenpolitischen Problemen geführt zu werden, eine Strategie, die schon Machiavelli seinem Fürsten mit auf den Weg gab. Der Zusammenhang zwischen schwachen Umfragewerten und der Mobilmachung gegen immer neue äußere Feinde im Spektrum des Terrors und auf der „Achse des Bösen“, wie sie in manchem US-Wahljahr zu beobachten ist, findet bei Hegel ihre staatphilosophische Basis.

Doch auch heute findet der „neue Krieg“ – die „humanitäre Intervention“ – einige Fürsprecher. Der Kosovo-Krieg (1999) hat nicht nur eine wahre Flut an Stellungnahmen prominenter Denker ausgelöst, die sich der NATO-Lage zwischen „Macht und Moral“[9] annahmen, sondern zugleich auch einen Gesinnungswandel provoziert, in dem der Krieg im Lichte des Menschenrechtsschutzes neu betrachtet wurde. So äußerte sich etwa Jürgen Habermas zum Dilemma des Westens angesichts des Gräuels und verteidigte den NATO-Angriff, was ihm Unverständnis eintrug und ihn schließlich sogar zum „Hegel der Bundesrepublik“[10] mutieren ließ. Auch Ulrich Beck hatte sich für den NATO-Einsatz ausgesprochen. Er erklärte das Zeitalter des clausewitz’schen Krieges für beendet, da im Zeitalter der postnationalen Intervention die „klassischen“ Kriegslegitimationsfiguren des 19. und 20. Jahrhunderts – Interesse, Rivalität und Feindschaft der Staaten – nicht mehr verfange, statt dessen gehe es in den „Menschenrechtskriegen“[11] um die Gewährleistung eines globalen „Menschenrechtsregimes“[12]. Nach Clausewitz gibt es Krieg als Mittel zur Konfliktlösung, das in der „Natur der Staatenverhältnisse“[13] liegt und immer dann zur Austragung kommt, wenn die Diplomatie scheitert, eben als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“[14]. Nach Beck geht es um eine „neue Ethik globaler Demokratie und Menschenrechte“, die den Übergang zweier Zeitalter symbolisiere, „von einer nationalstaatlichen zu einer kosmopolitischen Weltordnung“.[15]

Doch besteht auch hier die Gefahr der Perversion des guten Willens, den man im übrigen auch Hegel und Clausewitz unterstellen muss, denn auch bei ihnen geht es um die Lösung von Konflikten, um Stabilität und Sicherheit, um die schnellstmögliche Rückkehr zur Diplomatie, also – letztlich – um das Gute für das (eigene) Volk und den (eigenen) Staat. Beck erkennt unterdessen sehr wohl die Gefahr, dass sich die gute Absicht selbst ad absurdum führen kann, auch wenn es beim neuen Interventionismus nur um den Schutz der Menschenrechte ginge, was in der Tat ja nicht der Fall ist. Denn der Krieg um die Menschenrechte, so Beck, eröffne einerseits „neue Hoffnung und Handlungsmöglichkeiten“[16], zugleich aber könnte die „irdische Religion der Menschenrechte“[17] zu „Menschenrechts-Kreuzzüge[n]“[18] führen – ein Paradigma des Absurden.

Merry Christmas lässt keinen Zweifel daran, dass der Krieg absurd ist. Dies gerade auch vor dem Hintergrund der weihnachtlichen Versöhnlichkeit: Nachdem sich die Parteien näher gekommen sind, laden sie sich wechselseitig ein, je nach dem, welche Seite gerade das Artilleriefeuer eröffnet hat. So hocken sie im deutschen Schützengraben, als die deutsche Artillerie die französischen und schottischen Stellungen bombardiert, geeint in der Abscheu gegen das, was gerade vor sich geht. Eindrücklicher kann das Absurdum des Krieges kaum dargestellt werden.

3. Die Grenze zwischen „Oben“ und „Unten“

Noch etwas eint die Männer: Sie fühlen sich von „denen da oben“ im Stich gelassen. Sie fühlen sich instrumentalisiert für einen Zweck, der nicht ihrer ist. Sie merken, dass sie missbraucht werden, wenn man ihnen von „höheren Interessen“ (Heimat, Volk, Vaterland) erzählt, für die sie kämpfen sollen, denn sie wissen, dass es dabei nur um die Interessen der Höheren geht. Die Front verläuft im Bewusstsein der Soldaten nicht durch das Niemandsland zwischen den Schützengräben, sondern zwischen ihnen und einer heuchlerischen Heimat, die nichts von ihrem Schicksal weiß und auch nichts davon wissen will. Einzig interessieren die Menschen im Land militärische Erfolgsnachrichten.

Um wie viel mehr trifft dieses Gefühl der Instrumentalisierung und Objektivierung auf Frauen und Männer zu, die nicht für ihre Heimat kämpfen bzw. in diesem „guten Glauben“ in den Krieg ziehen, sondern die irgendwo abstrakte Ideale und konkrete Interessen militärisch durchsetzen sollen? Die Frage Was mache ich hier eigentlich? wird sich einer jungen Frau aus Los Angeles oder einem jungen Mann aus New York in der Wüste des Irak oder in den Bergen Afghanistans noch tiefer ins Herz bohren als den Deutschen, Franzosen und Schotten, die zumindest teilweise einen Bezug zu dem umkämpften Terrain herstellen konnten.

Dieser Objektivierung folgt eine völlige Entfremdung zur Sache, zum Anderen und zu sich selbst. Sartres Gedanken zur Realität des Arbeiters (Kritik der dialektischen Vernunft, 1959) finden hier im Soldaten eine Potenzierung.[19] Die Lösung bei Sartre, die Solidarisierung in Gruppen befreiter Individuen, ist im Krieg unmöglich, angesichts der im Kollektiv der Armee gefangenen Soldaten, die als Einzelne nichts bedeuten und nur in und durch die konturlose, uniformierte Masse eine Daseinsberechtigung haben, in ihr aber zugleich auf- und untergehen.

Als verzweifelter Versuch, diesem Paradoxon des einfachen Soldaten zu entkommen, wird die Erinnerung an die Zeit vor dem Krieg wach gehalten, als der Einzelne noch Subjekt sein durfte. Der Wecker Ponchels (Dany Boon) klingelt regelmäßig um 10 Uhr vormittags, im Gedenken an die Kaffeestunde mit der Mutter. Jeder hat Fotos seiner Frau und seiner Kinder, und als sich die Soldaten gegenüberstehen, werden diese als erstes gezeigt, so als wolle man sich gegenseitig bestätigen, trotz allem Mensch geblieben zu sein.

4. Die verbindende Kraft der Musik

Es ist die Begeisterung für die Musik, die den arroganten Kronprinzen, das ältere französische Ehepaar, das seinen Landsitz der deutschen Heeresleitung überlassen musste und die einfachen Soldaten an der Front eint. Und die Musik macht es möglich, dass sich diese friedlich begegnen, denn sie schafft mit ihren bekannten Melodien ein Gefühl von Zusammengehörigkeit, das Vertrauen schafft, den unerlässlichen Nährboden der Verständigung. Von Nietzsche stammt der Gedanke, Musik sei die Fortsetzung der Sprache in einer höheren Dimension. In der Tat kann Musik als derart „höhere Sprachkonfiguration“ ausdrücken, was sich nicht mit bloßen Worten sagen lässt. Durch Töne können Gefühle glaubwürdig vermittelt werden, die in der Rede allzu pathetisch oder abgedroschen wirken, durch sie erst werden Emotionen angesprochen. Bestimmte Rhythmen und Melodien beeinflussen unsere Stimmungslage, manche Klänge zeitigen sogar physiologische Reaktionen und wirken stimulierend auf Herzschlag, Atemfrequenz und Schweißproduktion.

Neue Erkenntnisse der Psychologie belegen gleichermaßen Nietzsches berühmten Gedanken vom Zusammenhang der Musik mit der Sprache und die Alltagserfahrung ihrer emotionalen Wirkung. So konnte der Psychologe und Musikwissenschaftler Stefan Kölsch vom Leipziger Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften nachweisen, dass für Sprache und Musik das gleiche neuronale Netzwerk im Gehirn zuständig ist.[20] Ferner fanden Wissenschaftler in Studien zur Wirkung von Musik heraus, dass bestimmte Melodien alle Menschen auf die gleiche Weise beeinflussen, unabhängig von dispositiven, konstitutiven und affektiven Prädestinationen sowie kontextuell-situativen Differenzen. Menschen verschiedener kultureller Hintergründe, beiderlei Geschlechts, aller Bildungsstufen und unabhängig von Musikgeschmack und Tageslaune reagierten in Versuchen auf langsame Mollmelodien mit „Traurigkeit“, auf schnelle Töne in Moll mit „Wut oder Angst“, „Freude“ ereilte sie bei schnellen Dur-Melodien, während langsame Stücke in Dur sich im Gefühl von „Ausgeglichenheit“ bemerkbar machten.[21]

Dieses „emotionale Koordinatensystem der Musik“ ist freilich nur eine Quelle der Beeinflussung menschlicher Gefühle, denn ein Lied kann zwar durch eine bestimmte Melodie eine bestimmte emotionale Atmosphäre schaffen, aber schon mit einem entsprechenden Text auch eine andere, u. U. konträre Wirkung entfalten, was gerade im Krieg genutzt wird, um den eigenen Soldaten ein Ventil für angestaute Frustration und die allgegenwärtige Furcht zu bieten und um damit Abgrenzung zum Feind zu schaffen. Das Soldatenlied stellt ein eigenes Genre dar und ist geeignet – ähnlich wie die Kindergedichte -, Hass zu schüren und die Bereitschaft zur Gewaltanwendung zu steigern. Doch wird dies in Merry Christmas eindrucksvoll überwunden, da hier die „Feinde“ das Liedgut des Anderen dankbar aufnehmen als das, was es ist: kulturelle Bereicherung, die keine Grenzen und Barrieren kennt.

Das „Stille Nacht“ jedenfalls wirkte auf alle Beteiligten gleichermaßen beruhigend und sorgte damit für die Basis der darauf folgenden Verständigung.

5. Die Ambivalenz der Religion

Es ist Advent. Die Menschen bereiten sich auf Weihnachten vor. Die Christenheit wartet auf den Erlöser, den Retter, den Erneuerer des zerstörten Bundes von Gott und Mensch. Nicht zuletzt auf den Friedensfürst. Der Prophet Jesaja nennt das für Ende Dezember erwartete Baby den „Immanuel“[22], den „Gott mit uns“.

Gott mit uns“ – das stand auch auf den Gürtelschnallen der deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs und dann auch der Wehrmacht. Als am Weihnachtsfeiertag die Leichen im Niemandsland beerdigt werden und Priester Palmer seinen Segen über jedem Gefallenen spricht, entdeckt er an einem toten deutschen Soldaten die Losung „Gott mit uns“ und erkennt in ihr die ganze Perversion eines machtpolitisch gebeugten Christentums. Er hatte in der Heiligen Nacht einen Gottesdienst gehalten, der sich an, an protestantische Preußen, katholische Franzosen und die Vertreter der anglikanischen Kirche aus Schottland richtete. Die orthodoxen Russen an der Ostfront mag er in seinem Gebet mitbedacht haben. Von diesem Gottesdienst wird er später sagen, er sei der wichtigste seines Lebens gewesen.

Nun also beanspruchen die Deutschen allein den lieben Gott, der doch für alle Menschen Mensch geworden war. Doch es sind nicht nur die Preußen, die in ihrem arroganten Starrsinn die Unendlichkeit des Schöpfers in der irdischen Provinz verorten. Denn später kommt es zur Konfrontation des sympathischen Priesters mit seinem Bischof, der mehr als General auftritt denn als Hirte. Während der Bischof eine Predigt im Gut-Böse-Duktus hält (England ist gut, der Feind ist böse), weiß Palmer nicht, ob er lachen oder weinen soll. Schließlich nimmt er das kleine Holzkreuz ab, küsst es und hängt es an einem Haken auf. Und sich? Der Film lässt sein Schicksal offen.

Was er nicht offen lässt ist die Frage, zu welcher Seite sich Religion schlagen muss. Immer nur zu jener der Versöhnung, niemals zu der des Hasses. Prediger, die zum Mord aufrufen, und Kriegsherren, die sich als Vollstrecker göttlichen Willens wähnen, sollten der Vergangenheit angehören. Was aber leider nicht der Fall ist.

III. Fazit

Merry Christmas ist ein zutiefst „humanistischer Film“ (so der Regisseur Christian Carion), der an die großen Anti-Kriegsfilme der Kinogeschichte nahtlos anknüpft, weil er nicht im Pathos aufgeht, sondern statt dessen engagiert eine wundersame Geschichte vom Frieden erzählt. Er ist dabei reich an Überraschungsmomenten und wirklich witzigen Szenen, die aber nicht pointiert, sondern beiläufig erzählt werden. Wenn Leutnant Horstmeyer, über den nach und nach überraschende Details bekannt werden, welche die Kernaussage des Films unterstreichen, wenn dieser spröde preußische Soldat am Heiligen Abend angesichts der schleppenden Festvorbereitungen im deutschen Schützengraben hektisch schreit: „Es ist schon 10 Uhr. Wir haben noch nichts geschafft.“, dann klingt er ganz wie die Karikatur des gestressten Familienvaters und gibt damit der grotesken Situation eine unfreiwillig komische Note. Merry Christmasist ein großartiger, ein sehenswerter Film – nicht nur zur Weihnachtszeit.

Anmerkungen:

[1] Vgl. Lenhart, V.: Pädagogik der Menschenrechte. Opladen 2003. und Lohrenscheit, C.: Das Recht auf Menschenrechtsbildung. Grundlagen und Ansätze einer Pädagogik der Menschenrechte. Frankfurt a. M. 2004.
[2] Zum Kontext von Argumentationskultur und Zivilisationsniveau vgl. Gil, T: Argumentationen. Der kontextbezogene Gebrauch von Argumenten. Berlin 2005. Gil zeigt unter Rekurs auf Senghass’„Hexagon“, wie Argumentationen auf den hohen soziokulturellen Entwicklungsstand, der gegeben sein muss, damit überhaupt erst ein öffentlicher Diskurs statt finden kann, stabilisierend wirken, indem sie die friedliche Konfliktlösung an die Stelle der Gewalt setzen (S. 60 ff.). Dabei spielt das Erlernen von Argumentation als Technik der Auseinandersetzung eine besondere Rolle, der die attische Philosophie mit der Paideia gerecht zu werden versuchte (S. 70 ff.), die durchaus als antikes Vorbild einer gegenwärtigen Menschenrechtserziehung gelten kann.
[3] Vgl. Birckenbach, H.-M.: Fact-Finding: Ein Instrument friedensfördernder Menschenrechtspolitik. Erfah-rungen aus dem Konflikt um die estnische und lettische Staatsbürgerschaft. In: Koch, J. / Mehl, R. (Hrsg.): Politik der Einmischung. Zwischen Konfliktprävention und Krisenintervention. Baden Baden 1994, S. 159 ff.
[4] Clausewitz, C. v.: Vom Kriege. Bonn 1990, S. 179.
[5] Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse. In: Ders.: Werke. Bd. 7, Frankfurt a. M. 1986, S. 494 (§ 324).
[6] Hegel: A. a. O., S. 500 (§ 333).
[7] Hegel: A. a. O., S. 493 (§ 324).
[8] Hegel: A. a. O., S. 494 (§ 324).
[9] Bald, D: Die Intervention im Kovoso. Macht und Moral als Auftrag der neuen Bundeswehr. In: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Jg. 17 (1999), Nr. 2, S. 93 ff.
[10] Ross, J. in seiner Würdigung zur Verleihung des Friedenspreises an Jürgen Habermas (Hegel der Bundesrepublik. Krieg ist in der Welt. Jürgen Habermas, der Philosoph der Konsensgesellschaft, erhält den Friedenspreis. Eine Würdigung aus gegebenem Anlass. In: Die Zeit. Jg. 56 (2001), Nr. 42).
[11] Beck, U.: Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden. Frankfurt a. M. 2004, S. 212.
[12] Beck: A. a. O. (2004), S. 213.
[13] Clausewitz: A. a. O., S. 198.
[14] Clausewitz: A. a. O., S. 179.
[15] Beck, U.: Über den postnationalen Krieg. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 24 (1999), Nr. 8, S. 985 f.
[16] Beck: A. a. O. (2004): S. 213.
[17] Ebd.
[18] Beck: A. a. O. (2004): S. 215.
[19] Satre selbst musste durch seine Einberufung zum Militär (er war 1940 Sanitäter in der französischen Armee) erkennen, dass die „absolute“ Freiheit des Menschen, die er in seinem Frühwerk als Grundsatz des atheistischen Existentialismus’ proklamiert („Die Existenz geht der Essenz voraus.“) durch äußere gesellschaftliche Zwänge zumindest eingeschränkt ist.
[20] Vgl. Schaller, K.: Musik und Sprache im Gehirn. In: Geist und Gehirn. Nr. 3 (2005), S. 34.
[21] Vieillard, S.: Töne mit Tiefenwirkung. In: Geist und Gehirn. Nr. 3 (2005), S. 30.
[22] Vgl. Jes 7.

Leicht überarbeitete Version des Essays Großer Krieg und kleiner Frieden. Gedanken zu Merry Christmas (2005)erschienen im Marburger Forum [Jg. 6 (2005), H. 6].

(Josef Bordat)

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