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Pro-christlicher Artikel auf Spiegel-Online - Man glaubt es kaum!

Chinas Christen
Gebete im Untergrund


Von Sophia Lee

Millionen Chinesen suchen im Christentum Antworten für ihr Leben, die ihnen die Regierung nicht geben kann. Die Geschichte eines Paares, das sich in geheimen Gottesdiensten verliebte - und den Glauben an die Partei verlor.
Als Tianran zum ersten Mal Xiu traf, wusste er, dass etwas Besonderes passiert war, doch er wusste nicht was. Später wird er sagen, er habe in diesem Moment Gott gesehen.
Xiu fiel als erstes die Narbe auf, die sich rechts von Tianrans Mund bis zum Kinn zieht.
Sie hatten sich auf einer Dating-Website kennengelernt und in einem kleinen Restaurant verabredet. Draußen rumorte die Stadt, drinnen war es fast still. Tianran erzählte von der Nacht, in der ein Messerstecher ihn im Gesicht verletzte. Xiu erzählte von Gott.
Er fand sie warmherziger als die anderen Frauen. Sie schien mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Er hatte sich nie viel aus Religion gemacht, doch jetzt fragte er sich, ob alle Christen so wie Xiu sind. Am Sonntag fuhr er mit ihr in die Kirche.
Xiu und Tianran heißen eigentlich anders, sie ziehen es vor, anonym zu bleiben. Sie fürchten, dass ihre Kirche und sie selbst von der Regierung bestraft werden könnten.
Seit der Kulturrevolution ist die Kommunistische Partei der natürliche Feind des Christentums. Ende der sechziger Jahre versuchte die KP Kirchen zu Plattformen für Parteipropaganda umzufunktionieren. Geistliche, die nicht spurten, wurden entlassen, manche mussten in Arbeitslagern schmachten. Die Gläubigen zogen sich in den Untergrund zurück.
Heute erlebt das Christentum einen enormen Zulauf. Als Mao 1949 die Volksrepublik ausrief, lebten im Land etwa eine Million Christen; derzeit gehen inoffizielle Schätzungen von mehr als 100 Millionen aus.
"Sie kennen von allem den Preis, aber von nichts den Wert"
Wer zu ergründen versucht, warum die Zahl der Gläubigen so rasch wächst, erfährt viel über das moderne China - und über die Probleme, die die neu bestimmte Regierung beschäftigen werden. Viele Bürger beklagen eine wachsende soziale Kälte. Sie suchen Orientierung in einer Gesellschaft, die sich rasend schnell verändert, in einer Welt, die ihnen immer fremder ist. Sie spüren ein Wertevakuum, das die Partei nicht mehr füllen kann, weil ihre Politik dem gesellschaftlichen Wandel hinterherhinkt.
Tianran, 36, ist ein schlanker, kräftiger Mann. Als Innenarchitekt verdient er gutes Geld. Er hätte wohl schnell eine hübsche Frau gefunden, die ihn heiratet. Doch Tianran mochte die meisten Frauen nicht. "Sie kennen von allem den Preis, aber von nichts den Wert", sagt er.
Wie die Frauen sei auch sein Land, findet Tianran. Es schockiert ihn, dass chinesische Konzerne ihren Profit maximieren, indem sie lebensbedrohliche Chemikalien in die Milch mischen. Er ärgert sich über die immer neuen Enthüllungen über Korruption in der Spitze der Kommunistischen Partei. Er findet es verwerflich, dass der Staat die Sozialsysteme nur langsam verbessert.
Einige Wochen, bevor er Xiu kennenlernte, sah Tianran in den Nachrichten einen Bericht aus der südchinesischen Stadt Guangzhou. Ein weißer Van hatteein Mädchen überfahren, es blieb schwer verwundet auf der Straße liegen. Der Van fuhr weiter und auch sonst kam lange Zeit niemand dem Mädchen zu Hilfe. Ein Truck brauste heran und überfuhr das Mädchen erneut. Immer noch keine Hilfe, bis eine Frau den reglosen Körper aufhebt und ihn in ein Krankenhaus trägt.
Tianran schaltete den Fernseher ab und schämte sich für China. Zwei Tage später las er in der Zeitung, dass das Mädchen gestorben war.
Geschichten wie diese häufen sich. Sie verstärken eine Debatte über den moralischen Verfall der Gesellschaft, die nach Korruptionsvorwürfengegen Top-Funktionäre längst auch die Partei betrifft. Die soziale Verkommenheit sei eines der schwerwiegenden Probleme, die die Regierung angehen müsse, schrieb Deng Yuwen, Mitherausgeber der "Study Times", kürzlich in einem Essay. Es war eine bemerkenswerte Veröffentlichung: Die Zeitschrift wird von einer Eliteschule der KP herausgegeben, deren Leiter Chinas künftiger Präsident Xi Jinping ist. Der Essay wurde im Internet rasch zensiert. Doch dass Deng ihn überhaupt veröffentlichte, lässt vermuten, dass er Xi hinter sich wusste.
Der Glaubensverlust
Kurz bevor Xiu 18 wurde, nahm ein Lehrer sie beiseite und bot ihr an, Mitglied der Kommunistischen Partei zu werden. Es ist eine Auszeichnung, die traditionell den Klassenbesten vorbehalten ist. Die Partei will die Fleißigsten und Intelligentesten eines jeden Jahrgangs rekrutieren. Xiu fühlte sich geehrt. Sie sagte zu.
Woche für Woche saß sie in einem Saal unter hohen Decken und zwischen roten Säulen. Gemeinsam mit anderen Eliteschülern hörte sie ihren Lehrer die Verse der kommunistischen Verfassung predigen. "Die Partei steht für Gleichheit, Einheit und gegenseitige Unterstützung aller ethnischen Gruppen", mahnte er. Xiu schrieb sich die Worte auf, obwohl sie nicht zu stimmen schienen. Gleichheit und Brüderlichkeit waren dort draußen, vor den Toren der luxuriösen Kaderschmiede, kaum zu finden.
Bald war sie es leid, dass die Partei ihr vorschrieb, was sie tun und lassen sollte. Und sie hatte das Gefühl, dass es ihren Mitschülern ähnlich ging.
Heute ist Xiu 31. Sie sagt: "Die Kommunisten glauben, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Dass er nur hart arbeiten muss, um seine Lebensziele zu erreichen und dann glücklich ist. Doch das stimmt nicht. Die Leute sind nie zufrieden. Sie gieren nach immer mehr. Die Lehre des Kommunismus fußt auf einem falschen Menschenbild."
Religion als Zufluchtsort
Ein Großraumbüro im neunten Stock eines Wolkenkratzers. An einer Wand hängt ein Kreuz, auf einem Bücherregal steht ein Plastikengel. Hinter einer Trennwand, wo früher der Chef saß, bekommen Kinder Bibelunterricht. Hinter dem Fenster ragen Wolkenkratzer in den versmogten Himmel. Jeden Sonntag drängen sich gut 80 chinesische Christen in die provisorische Kirche, auch Tianran und Xiu. Sie sagen, sie seien in diesem Raum zu neuen Menschen geworden.
Seit er Xiu kannte, war Tianran jeden Sonntag in die Kirche gekommen. Er hörte den Predigten des Pastors zu. Er beobachtete, wie herzlich die Menschen miteinander umgingen. Eines Morgens fiel ihm auf, dass er Geschäftspartnern gern großzügige Geschenke machte, aber seiner Familie nie etwas mitbrachte. Später merkte er, dass er sich oft so verhielt. Wie sehr er die Menschen, die ihm wichtig waren, vernachlässigte. Er verstand, dass er Teil jener kalten Welt war, die er so oft lautstark verurteilte.
Xiu hörte in einem ihrer ersten Gottesdienste eine Predigt über die sieben Todsünden. Sie verstand, dass sie sie alle schon begangen hatte. Dass die Männer zwar mit ihr flirteten und sie sich teure Handtaschen und Kleider kaufen konnte; dass sie aber trotzdem nicht glücklich war. "Der Mensch ist von Natur aus schlecht", sagte der Pastor. "Er muss von Gott gerettet werden." Sie lief nach Hause und weinte lange. Dann betete sie.
Bald darauf ließ sich Tianran taufen. Xiu zahlte die Beiträge für die Partei nicht mehr. Einige Monate später heirateten die zwei.
In der Kirche, neun Stockwerke über der Stadt, beginnt der Pastor zu predigen. Er ist ein älterer Mann mit fliehender Stirn und kräftiger Stimme. Die Predigt handelt von einen Hirten, der seine Herde verliert, den Herrn dafür verflucht und später doch neuen Reichtum findet. Der Pastor illustriert seinen Vortrag mit einem Powerpoint-Chart. Es zeigt eine Tabelle. "In der linken Spalte seht ihr, wie viele Schafe der Hirte verlor", sagt der Pastor. "Rechts seht ihr, was Gott ihm später zurückgab. Ihr seht: Es ist viel mehr. So gut sorgt der Herr für die Seinigen."
Dann beginnen die Gläubigen zu singen und zu beten, die Gesichter hellen sich auf, die Menschen sehen frei aus, wenn sie beten.
"Gott findet eine Lösung für uns"
Wie die Gemeinde trifft sich der Großteil der Christen in geheimen Gottesdiensten, allein in Peking soll es rund 3000 Untergrundkirchen geben. Zwar gibt es auch staatlich autorisierte Gotteshäuser, doch viele Christen meiden diese. Denn in ihnen behält sich die Partei das Recht vor, Inhalte von Predigten zu zensieren. Katholiken verbietet sie gar, den Papst anzuerkennen; offizielles Oberhaupt der katholischen Kirche ist die Partei.
Die religiöse Freiheit ist also noch immer begrenzt, obwohl die Verfassung sie eigentlich garantiert. Manche Christen kämpfen offen für ihre Rechte. So sorgt die Shouwang-Kirche seit rund anderthalb Jahren regelmäßig für Schlagzeilen, wenn sie versucht, auf einem Platz in Peking freie Gottesdienste zu feiern. Diese werden jedes Mal unterbunden, meist sperren Polizisten die Christen über Nacht ein, der Gottesdienst findet dann im Gefängnis statt.
Die meisten Gläubigen, so auch Xiu und Tianran, verhalten sich indes ruhig. Solange sie keinen Ärger machen, werden sie von der Partei toleriert. Doch sie sind wütend, dass ihr freier Glaube nicht anerkannt wird; dass die Gesetze ihnen keine Sicherheit geben und sie ihre Gottesdienste in improvisierten Räumen abhalten müssen.
Kürzlich kam ein Polizist in die Kirche im neunten Stock und stellte aufdringliche Fragen. Da wurde Xiu bewusst, dass sie den Freiraum, den sie sich geschaffen hat, jederzeit wieder verlieren kann. Doch sie will sich nicht einschüchtern lassen. "Wenn man uns verhaftet, dann ist das Gottes Wille", sagt sie. "Dann findet Gott eine Lösung für uns."
Tiaran streichelt Xius Bauch. Im Frühjahr wird sie ihm einen Sohn schenken. Sie hofft, dass er in einem China leben wird, in dem Menschen ihre Religion frei ausleben können.

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